Der Kniefall Willy Brandts

„Er kniet“ – so gab Egon Bahr seine überraschte Reaktion wieder. Selbst der Vertraute Willy Brandts war zuvor nicht über die Absicht des Bundeskanzlers informiert worden. Anlass für den Besuch der bundesdeutschen Delegation in Warschau am 7. Dezember 1970 war die Unterzeichnung eines Vertrags mit der Volksrepublik Polen, in dem die Partner Gewaltverzicht und die Unverletzlichkeit der Grenzen vereinbarten. Er bildete den Auftakt zu weiteren Abmachungen in den folgenden Jahren, die als Ostverträge in die Geschichte eingingen. Anlässlich des Besuchs kam es zu der bereits im Vorfeld geplanten Kranzniederlegung am Grabmal des Unbekannten Soldaten, Brandt hatte jedoch darüber hinaus eine weitere angeregt, die an dem Denkmal stattfinden sollte, das an den jüdischen Aufstand im Warschauer Ghetto vom April/Mai 1943 erinnerte. Nach diesem zweiten Gedenken fiel Brandt auf die Knie, hielt für einige Momente inne und verließ daraufhin den Ort des Geschehens, ohne auch nur ein Wort gesprochen zu haben.

Im Rahmen seiner Israel-Politik lag es für Brandt nahe, am Denkmal eine Geste der Demut zu vollziehen, doch bereits von Beginn an wurde sie in einem weiter gefassten Rahmen gesehen. Der Kniefall ergänzte den auf die Gegenwart bezogenen deutsch-polnischen Vertrag durch eine vergangenheitspolitische Komponente, die sehr unterschiedlich aufgenommen wurde. Während das Ereignis in der westlichen Welt große Wellen schlug, spielte man es im Ostblock angesichts des bestehenden Feindbilds „BRD“ weitgehend herunter. Kritik erntete Brandt vor allem aus den Reihen der CDU/CSU-Opposition, die seiner Vertragspolitik ablehnend gegenüberstand. Gemäß einer sogleich durchgeführten Spiegel-Umfrage empfand auch ein großer Teil der Bevölkerung den Kniefall als übertrieben. Gerade das Außerordentliche dieser Demutsgeste schien zu einer Zeit, in der die Verbrechen der Nationalsozialisten noch in großem Maße verdrängt wurden, fraglich.

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Würdigung erfuhr Brandt jedoch ein Jahr später, als er für seine Politik den Friedensnobelpreis überreicht bekam – mit Sicherheit nicht zuletzt aufgrund der Sekunden in Warschau. Andere Gesten deutscher Sozialdemokraten folgten – wie Gustav Heinemanns Verneigen vor den jüdischen Opfern in Amsterdam oder Helmut Schmidts Tränen in Auschwitz – wiesen jedoch längst nicht jene Bildmächtigkeit des Kniefalls auf. Mit dem Ende des Kalten Kriegs stieß das Ereignis schließlich auch in Polen auf große Zustimmung. Deutlichstes Zeichen dafür ist die Benennung des Platzes am Ghetto-Mahnmal nach dem Bundeskanzler und die Errichtung eines entsprechenden Denkmals. Mit der bedeutungsschwangeren Geste von Willy Brandt hat nicht nur die Ostpolitik, nicht nur der deutsche Umgang mit der Vergangenheit, sondern auch die Versöhnung der Völker, die Überwindung der Spaltung Europas und der Welt eine sinnfällige Bildrepräsentation gewonnen.