Der Revisionismusstreit

Unfreiwilliger Initiator des Revisionsmusstreits war der Parteijournalist Eduard Bernstein, der zwischen 1896 und 1898 für das Parteiorgan „Neue Zeit“ eine Reihe von Artikeln zur sozialistischen Theorie verfasste und 1899 das Buch „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“ veröffentlichte. Bernstein, Mitverfasser des Erfurter Parteiprogramms von 1891, setzte sich in diesen Schriften kritisch mit einigen Grundannahmen der marxistischen Theorie auseinander, unter anderem mit der These der fortschreitenden Verelendung des Proletariats und des zwangsläufigen Zusammenbruchs der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Bernsteins Kritik verursachte einen weit über den Kreis der Parteitheoretiker hinausreichenden Protest in der SPD, da seine Thesen – insbesondere die Annahme, dass für die Arbeiterschaft innerhalb des bestehenden politischen Systems substanzielle Verbesserungen zu erzielen seien – weitreichende Folgen für die Parteitaktik hatte. Dazu die Theorie des naturgesetzlichen Zusammenbruchs aufzugeben und damit auch das Endziel des Sozialismus zurückzustellen, wie Bernstein es tat, waren die meisten führenden Sozialdemokraten damals nicht bereit, da der Revolutionsglaube ein Zentralbestandteil ihrer noch stark durch die Verfolgungserfahrungen des ,Sozialistengesetzes‘ geprägten kollektiven Mentalität war.

Ihren Höhepunkt erreichten die Auseinandersetzungen über Bernsteins Thesen auf dem Dresdner Parteitag der SPD im September 1903, als der Parteivorsitzende August Bebel die Annahme einer Resolution durchsetzte, die die revisionistischen Bestrebungen „auf das entschiedenste“ verurteilte und feststellte, dass es keinen Anlass gebe, „unsere bisherige bewährte und sieggekrönte, auf dem Klassenkampf beruhende Taktik in dem Sinne zu ändern, daß an Stelle der Eroberung der politischen Macht durch Überwindung unserer Gegner eine Politik des Entgegenkommens an die bestehende Ordnung der Dinge trete“.

Direkte Konsequenzen hatte der Dresdner Parteitagsbeschluss nicht, da die Resolution den Revisionismus so definierte, dass auch die meisten Anhänger Bernsteins ihr zustimmen konnten. Während auf der Ebene der Parteitheorie somit ein wirksamer dilatorischer Formelkompromiss gefunden worden war, brachen in den mit ihr zusammenhängenden Fragen der Parteitaktik jedoch in den folgenden Jahren immer wieder Kontroversen über tagesaktuelle Probleme (Budgetbewilligung, Wahlabsprachen mit bürgerlichen Parteien, Eintritt in Parlamentspräsidien und Ähnliches) auf. Hierbei wurden die Vertreter des rechten, reformistischen Parteiflügels gelegentlich des „Revisionismus“ bezichtigt, das heißt mit dem Vorwurf konfrontiert, nicht nur in Einzelfragen zu dissentieren, sondern das theoretische Fundament der Partei auszuhöhlen. Blieb der Vorwurf des Revisionismus bis zum Ersten Weltkrieg eine innerparteiliche Angelegenheit, so wurde er mit der Spaltung der Arbeiterbewegung 1917/18 zu einem Schlagwort, das in der Folgezeit von den Unabhängigen Sozialdemokraten und den Kommunisten benutzt wurde, um die Mehrheitssozialdemokraten als Abweichler von den Grundsätzen der sozialistischen Theorie darzustellen. In den Jahren der Weimarer Republik gewann der Begriff zunehmend den Charakter eines Schimpfworts, das allerdings in der kommunistischen Propaganda von dem jüngeren antisozialdemokratischen Etikett des „Sozialfaschismus“ überstrahlt wurde.

Als die Sozialdemokraten nach dem Zweiten Weltkrieg gar nicht mehr den Anspruch erhoben, Deutungshoheit über die marxistische Theorie zu besitzen, wurde der Revisionismus zu einem Totschlagargument, mit dem die ideologischen Lehrwächter in der Sowjetunion und ihren Satellitenstaaten im innermarxistischen Diskurs reformsozialistische Konzepte diskreditierten. Wie weit sich der Begriff inzwischen von seinem historischen Kontext – den Flügelkämpfen der SPD um die Jahrhundertwende – gelöst hatte, und dass er als eine zeitlose Bedrohung der vermeintlich reinen Lehre wahrgenommen wurde, verdeutlicht seine Definition in den von der Akademie der Wissenschaften der UdSSR herausgegebenen „Grundlagen der marxistisch-leninistischen Philosophie“ von 1974: Neben dem rechten Revisionismus, der die „Schärfe der Klassenkonflikte in unserer Epoche zu vertuschen“ versuche, existiere als zweites Feindbild ein linker Revisionismus, der als „pseudorevolutionäres Abenteurertum, als Radikalismus und Superrevolutionarismus“ auftrete und „für den Kampf gegen die Bourgeoisie lediglich militärische Methoden bzw. Methoden des Partisanenkampfes gelten lassen“ wolle.

Die deutsche Sozialdemokratie nahm 1959 in Bad Godesberg auf der programmatischen Ebene Abschied von der marxistischen Theorie, präsentierte dies, obwohl es inhaltlich durchaus zu rechtfertigen gewesen wäre, aber nicht als einen „Triumph des Revisionismus“, der seit jeher keine Selbstbezeichnung gewesen war, sondern eine negativ konnotierte Fremdzuschreibung. So wurde auch später zwar dem Revisionisten Bernstein große Wertschätzung zuteil – Carlo Schmid konstatierte 1964 bei der 100-Jahrfeier der Sozialistischen Internationale, er habe „auf der ganzen Linie gesiegt“ –, der Revisionismus lebte jedoch als Exklusionsbegriff fort: mit einigen parteigeschichtlichen Wirkungen zuletzt in den 1970er Jahren, als sich eine Gruppierung der Jungsozialisten um den späteren Bundeskanzler Gerhard Schröder in Abgrenzung von dem DKP-nahen Stamokap-Flügel und den Gemäßigten als „Antirevisionisten“ bezeichnete.