Der Sozialstaat

Die Geschichte des Sozialstaats begann im 19. Jahrhundert, als sich Ständegesellschaft und Zunftverfassung auflösten und die Familie als Produktionsgemeinschaft und Altersvorsorgeinstitution ihre Bedeutung verlor. Die Begründung hierfür lag im Bevölkerungswachstum, in der Marktorientierung der Wirtschaft, in den industriellen Produktionsformen, in der Zuwanderung der Arbeitskräfte vom Land in die Standorte des Bergbaus und der Großbetriebe und in der Verstädterung der Wohngemeinden.

Dies alles und zusätzlich die Veränderungen der politischen und der gesellschaftlichen Ordnungen in Ländern wie England, Deutschland, Frankreich und in den skandinavischen Staaten hin zu demokratischen Verhältnissen verstärkten die Notwendigkeit einer garantierten und dauerhaften sozialen Absicherung. Denn mit der Durchsetzung der liberal-kapitalistischen Marktwirtschaft wurden im ungeheuren Ausmaß Produktivkräfte freigesetzt, die die Existenzunsicherheit erhöhten, Massenarbeitslosigkeit je nach Konjunkturlage hervorriefen, die Unfallrisiken der Maschinenarbeit erhöhten und Invalidität und Altersarmut entstehen ließen.

Für die sozialdemokratische Arbeiterbewegung, die Gewerkschaften eingeschlossen, hatte der Sozialstaat zunächst keine visionäre Bedeutung; er galt als „Reparaturbetrieb“, während als eigenes Ziel die Transformation des Kapitalismus in den Sozialismus vertreten wurde. Darüber hinaus waren die Anfänge des Sozialstaats in Deutschland konservativer Herkunft. Die Bismarcksche sozialpaternalistische Sozialgesetzgebung und ihre Weiterführung bis 1914 dienten dem gegen die Arbeiterbewegung gerichteten Ziel, die bestehende gesellschaftliche Ordnung vor revolutionären Umbrüchen zu sichern und so die Expansion des industriellen Kapitalismus zu garantieren.

In der Weimarer Republik wurde die sozialstaatliche Entwicklung fortgeführt und zugleich durch einen umfassenden Katalog sozialer Grundrechte in der Verfassung ausgebaut, unter anderem mit der Gewährleistung des Anspruchs auf Arbeit und Unterhalt. Die Begründung des sozialdemokratischen Sozialstaats war aber eine grundlegend andere als die der Konservativen, nämlich bezogen auf die später programmatisch manifestierten, der Tradition der europäischen Aufklärung entnommenen universellen Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität.

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Nach 1945 haben sich die beiden großen Volksparteien SPD und CDU/CSU im Grundgesetz zu einem historischen Kompromiss zusammenfinden können: umfassende Mitbestimmung statt Sozialisierung. Erst jetzt erwies sich der Sozialstaat, gleich welcher Länder, als ein Erfolgsmodell, so dass von dessen „goldenem Zeitalter“ mit einer sozialdemokratischen Prägung gesprochen werden kann.

In den 1970er Jahren begann die Diskussion über die Grenzen des Sozialstaats, bedingt durch verlangsamtes Wachstum bei steigender Inflation, neue global ausgerichtete Wettbewerbsbedingungen, Veränderungen der Arbeitswelt durch De-Industrialisierung, Reduzierung der Lebensarbeitszeit, steigende Lebenserwartung, wachsende strukturelle Arbeitslosigkeit, Abnahme der Bedeutung der Familie, Verringerung der Kinderzahl, aber auch durch Haushaltsdefizite.

Daraus resultierte die Forderung nach einer Neuausrichtung der Sozialsysteme beziehungsweise nach einem Umbau des Sozialstaats, ohne das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit aufzugeben. Was künftig soziale Gerechtigkeit heißen soll, ist umstritten. Sicher scheint zu sein, dass auch die Konservativen in Europa die Grundsäulen des Sozialstaats erhalten wollen, wenn auch unter weitgehender Entlastung ihrer Wähler. Für die Vertreterinnen und Vertreter eines sozialdemokratischen Sozialstaats geht es darum, einen Weg zu finden, der es jedem Bürger ermöglicht, in einer pluralen, individualisierten, auf Selbstverwirklichung ausgerichteten Gesellschaft menschenwürdig leben zu können.