Herbert Wehners Aktentaschen

Sie war stets an seiner Seite, immer griffbereit und prall gefüllt mit wichtigen Papieren: Neben der Pfeife war die große, meist schwarze oder braune Aktentasche das zweite markante Markenzeichen von Herbert Wehner, der als Minister für gesamtdeutsche Fragen (1966–1969) und langjähriger Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion zu den bedeutendsten deutschen Nachkriegspolitikern zählt.

Erzählungen zufolge hat Wehner mit seiner Aktentasche sogar Politik gemacht: Nach dem siegreichen Wahlkampf im November 1972 musste sich der wiedergewählte Bundeskanzler Willy Brandt einer Operation am Kehlkopf unterziehen, weshalb er an den folgenden Koalitionsverhandlungen mit der FDP nicht teilnehmen konnte. Von den Ärzten zum Schweigen angehalten, agierte er mit schriftlichen Überlegungen und Konzepten vom Krankenbett aus. Einer dieser Vermerke soll angeblich vorsätzlich in Wehners Aktentasche verschwunden sein, sodass Helmut Schmidt und Herbert Wehner die Gespräche weitgehend ohne die Regieanweisungen von Brandt führten und dieser auf personelle Schlüsselentscheidungen folglich kaum Einfluss hatte – unter anderem wurde Horst Ehmke auf Wunsch Schmidts als Chef des Bundeskanzleramts abgelöst.
Geboren am 11. Juli 1906 in Dresden, kam Herbert Wehner frühzeitig mit Politik in Berührung. Über die Sozialistische Arbeiterjugend und einer Zusammenarbeit mit dem Anarchisten Erich Mühsam fand er 1927 zur KPD und stieg zu einem ihrer wichtigsten Funktionäre auf. Nach längerem Exil in Moskau – unter anderem im berüchtigten Hotel Lux –, einem illegalen Aufenthalt und einer Verurteilung wegen „Nachrichtentätigkeit für eine fremde Macht“ in Schweden und dem Ausschluss aus der KPD kehrte er 1946 nach Deutschland zurück und wurde SPD-Mitglied. Trotz wiederholter Angriffe auf seine Person aufgrund seiner kommunistischen Vergangenheit übernahm er in der Partei immer mehr Verantwortung, war ein wortgewaltiger Gegenspieler von Bundeskanzler Adenauer und hatte maßgeblichen Anteil an der Öffnung der SPD zur Volkspartei.
Seine langen Jahre als stellvertretender Parteivorsitzender (1958–1973) und Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion während der sozial-liberalen Koalition (1969–1983) machten ihn neben Brandt und Schmidt zu einem der einflussreichsten SPD-Politiker nach 1945. Allerdings ist er bis heute auch einer der umstrittensten, was sich aus den Rollen speist, die ihm beim 1972 gescheiterten Misstrauensvotum gegen Brandt und bei der Guillaume-Affäre 1974 zugeschrieben wurden.
Mindestens ebenso lebhaft wie diese legendenumrankte Phase der deutschen Zeitgeschichte sind die beiden Markenzeichen von Herbert Wehner, die Pfeife und die Aktentasche, in der SPD wie in der breiteren Öffentlichkeit in Erinnerung geblieben. Fast nie war er ohne diese Accessoires zu sehen.
Besonders die ledernen, im Laufe der Jahre abgewetzten Aktentaschen, von denen er bisweilen mehrere parallel im Einsatz hatte, symbolisieren einen Teil seines politischen Charakters und seiner Arbeitsweise. Wehners Hang, alle wichtigen Papiere in seiner Tasche aufzubewahren, mit sich zu tragen und somit immer detailliert vorbereitet zu sein, blieb auch seinen politischen Weggefährten und Widersachern nicht verborgen, nötigte ihnen Respekt ab und bot Raum für zahlreiche Vermutungen und Spekulationen. Karl Wienand, ehemaliger Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, gestand beispielsweise dem Nachrichtenmagazin „Der SPIEGEL“, dass es ihm direkt unheimlich sei, „wie er da seine schwere Aktentasche dabei hat und dann plötzlich Dinge herauszieht über Vorgänge, die Jahre zurückliegen, mit Ort und Datum“.
Nach Wehners Tod (1990) kamen gleich mehrere Exemplare seiner angeblich letzten Aktentasche zum Vorschein. Eine stammte aus dem Kofferraum von Wehners Privatwagen, der jahrelang in der SPD-Zentrale in Bonn eingelagert gewesen war. Wichtige Dokumente barg die Tasche jedoch nicht mehr, da seine Ehefrau sie zum Notfallkoffer umfunktioniert hatte. Eine ganze Sammlung von Wehners früheren Aktentaschen ist heute im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung zu sehen.