Otto Wels

Die Verabschiedung des sogenannten Ermächtigungsgesetzes, das die Gesetzgebungsbefugnis vom Parlament auf die Reichsregierung übertrug, durch den am 5. März 1933 neu gewählten Reichstag war eine zentrale Etappe auf dem Weg zur Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur. Von den 444 in der nach dem Reichstagsbrand als Ausweichquartier genutzten Kroll-Oper anwesenden Abgeordneten – die kommunistischen Abgeordneten konnten wegen Verhaftung oder Flucht nicht teilnehmen – stimmten lediglich die 94 Sozialdemokraten, deren Fraktion ebenfalls schon durch Verhaftungen zusammengeschmolzen war, gegen das von der Regierung Hitler vorgelegte Gesetz. Ihre Ablehnung begründete der Parteivorsitzende Otto Wels in einer Rede, die als Zeugnis der Grundsatzopposition der Sozialdemokratie gegen die nationalsozialistische Diktatur im kollektiven Gedächtnis das „Dritte Reich“ überdauert und das geschichtspolitische Selbstwertgefühl der Nachkriegssozialdemokratie mitgeprägt hat.

Auf die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 hatten die Führungsgremien der SPD nicht zuletzt aufgrund der Fehleinschätzung, dass die im neuen Kabinett zahlenmäßig überwiegenden bürgerlich-konservativen Kräfte die Nationalsozialisten zähmen würden, mit der Entscheidung reagiert, zunächst abzuwarten und auf außergewöhnliche Kampfmaßnahmen wie einen politischen Generalstreik erst im Falle eines offenen Verfassungsbruchs zurückzugreifen. Da dieser jedoch ausblieb und der Rechtsstaat im Februar und März schleichend ausgehöhlt wurde – besonders markant durch die Außerkraftsetzung wichtiger Grundrechte durch die sogenannte Reichstagsbrandverordnung –, fanden die Sozialdemokraten keine Gelegenheit, zum offenen Widerstand überzugehen, und verharrten in einer Position wachsender Hilflosigkeit, in der ihnen außer dem verbalen Protest gegen die Repressionen kaum Handlungsoptionen blieben. Auch in der Reichstagsrede von Wels am 23. März 1933 spiegelt sich diese defensive Haltung noch wider, etwa in der ausdrücklichen Übereinstimmung mit der außenpolitischen Forderung Hitlers nach deutscher Gleichberechtigung, der Zurückweisung des Vorwurfs, die SPD habe übertriebene Nachrichten über die derzeitige Lage in Deutschland ins Ausland übermittelt, oder in der Rechtfertigung der sozialdemokratischen Leistungen für den Wiederaufbau von Staat und Wirtschaft nach dem Krieg. Die Kernfrage, ob die Selbstentmachtung des Reichstags durch die zur Debatte stehende Gesetzesvorlage zu akzeptieren sei, verneinte Wels jedoch kompromisslos, und er betonte zugleich, dass die Sozialdemokraten die zu erwartenden Folgen dieser Ablehnung zu tragen bereit seien: „Kein Ermächtigungsgesetz gibt Ihnen die Macht, Ideen, die ewig und unzerstörbar sind, zu vernichten. […] Das Sozialistengesetz hat die Sozialdemokratie nicht vernichtet. Auch aus neuen Verfolgungen kann die deutsche Sozialdemokratie neue Kraft schöpfen“.

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Otto Wels berühmte Worte vor dem Reichstag am 23. März 1933 zur Ablehnung des Ermächtigungsgesetzes. (0:09)
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Die klare Ablehnung des Ermächtigungsgesetzes wurde nach dem Zweiten Weltkrieg für die Sozialdemokratie der zentrale Bezugspunkt, um ihre Haltung zur nationalsozialistischen Diktatur historisch zu verorten. Andere Handlungsebenen wie der in der Rückschau fatal anmutende Attentismus im Februar 1933 oder die massiven Streitigkeiten zwischen den unterdessen exilierten Vorstandsmitgliedern und den in Deutschland gebliebenen Parteiführern vom Mai und Juni 1933, die noch auf die Neuorganisation der Partei 1945/46 Schatten geworfen hatten, gerieten dagegen rasch aus dem Fokus des historischen Selbstverständnisses der SPD. Auch zur Abgrenzung von den konkurrierenden politischen Kräften erwies sich der 23. März 1933 als ein geeignetes Datum, hing doch dem FDP-Vorsitzenden Theodor Heuß persönlich der historische Makel an, dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt zu haben, und konnte doch die CDU als Nachfolgepartei des Zentrums wenigstens indirekt dafür verantwortlich gemacht werden, dem Nationalsozialismus in der Entscheidungsstunde keinen Widerstand geleistet zu haben.

Zur Etablierung der Rede von Wels als sozialdemokratischer Erinnerungsort trugen zahlreiche Parteifunktionäre bei unterschiedlichen Anlässen bei, wie sich anhand dreier Beispiele aus verschiedenen Epochen der bundesrepublikanischen Geschichte illustrieren lässt: Paul Löbe erinnerte in seiner Ansprache als Alterspräsident zur Eröffnung der ersten Sitzung des Bundestags am 7. September 1949 daran, „daß allein von den 94 sozialdemokratischen Abgeordneten, die gegen das Ermächtigungsgesetz gestimmt haben, […] 24 ihren Widerstand mit dem Leben bezahlt haben“; der frühere bayerische Ministerpräsident Wilhelm Hoegner würdigte die Rede von Otto Wels in einem Buch 1959 „nach Form und Inhalt“ als „ein Meisterstück, ein letzter Gruß an das verblichene Zeitalter der Menschenrechte und der Menschlichkeit“; Willy Brandt schließlich gedachte als Alterspräsident des Bundestags zum 50. Jahrestag des Ermächtigungsgesetzes im März 1983 „seines Vorgängers im Vorsitz der deutschen Sozialdemokratie, Otto Wels, und seiner Fraktionskollegen in dankbarer Ehrerbietung“, worauf sich Beifall nicht nur bei den Sozialdemokraten, sondern auch bei den Grünen und bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU erhob.

Wels war bereits zehn Jahre zuvor – zu seinem 100. Geburtstag – durch die Ausgabe einer Briefmarke der Deutschen Bundespost würdigt worden. Ob ihm diese Ehre auch ohne seine Rede vom 23. März 1933 zuteil geworden wäre, steht dahin; jedenfalls ist der Zusammenhang der Person und seiner vermeintlich wichtigsten Tat bei anderen Zeugnissen der Erinnerungskultur unauflöslich: So findet sich unter dem Schild der „Otto-Wels-Straße“ in Hannover die Zusatzinformation, dass er „1933 im Reichstag das Nein der Sozialdemokraten zum Ermächtigungsgesetz“ begründet habe, und auch eine nahe seines langjährigen Wohnsitzes in der Bölschestraße in Berlin-Friedrichshagen anlässlich seines 70. Todestags 2009 errichtete und von Altkanzler Gerhard Schröder der Öffentlichkeit übergebene Stele rückt seine Rede ganz in den Vordergrund seines politischen Wirkens, indem sie zwei zentrale Sätze aus ihr zitiert: „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht. Wir deutschen Sozialdemokraten bekennen uns in dieser geschichtlichen Stunde feierlich zu den Grundsätzen der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Sozialismus“.