Zehnstundenkämpfer von Crimmitschau

Crimmitschau ist heute wohl nur noch wenigen ein Begriff. Um die Jahre 1903/4 blickte die gewerkschaftlich organisierte Arbeiterschaft jedoch gespannt auf die kleine Industriestadt im Landkreis Zwickau des Freistaats Sachsen. 22 Wochen streikten hier 600 Männer und Frauen, weitere 5.600 dieser sogenannten „Zehnstundenkämpfer“ wurden ausgesperrt. Diese Auseinandersetzung hatte sich vor allem an den Arbeitsbedingungen entzündet: Eine zunehmende Modernisierung des ursprünglich handwerklichen Produktionsprozesses mechanisierte die schwere körperliche Arbeit und erleichterte sie – immer mehr Kinder, Jugendliche und Frauen konnten somit in die Herstellung einbezogen werden.

Einer schier „grenzenlos“ gewordenen Arbeitszeit stand bald die bescheidene Forderung nach einem zehnstündigen Arbeitstag, also nach einer gewonnenen Stunde Lebensqualität gegenüber. Da das Einkommen der Männer nicht ausreichte, um eine Familie zu ernähren, mussten sich auch die Frauen an der Sicherung des Lebensunterhalts beteiligen und wurden damit zu Konkurrentinnen auf dem Arbeitsmarkt, was wiederum den Unternehmern die Möglichkeit bot, die Löhne weiter zu senken.
Aber schon lange vor dieser Auseinandersetzung hatten die Crimmitschauer Arbeiterinnen und Arbeiter für höheren Lohn und kürzere Arbeitszeiten gekämpft. So gab es eine Filiale des Verbands der Textilarbeiter, deren Leitung schon frühzeitig ihr Augenmerk auf die Einbeziehung von Frauen in das Organisationsleben gelegt hatte. Hier wurden die Arbeiterinnen in den Fabrikversammlungen ermutigt, ihre Anliegen vorzubringen, während Zwischenrufe der männlichen Kollegen geahndet wurden. Schon ein zeitgenössisches Gutachten stellte fest, dass Frauen einer mehrfachen Benachteiligung unterlägen: Sie müssten nicht nur ihre Arbeitskraft genauso wie Männer verkaufen, sondern dies auch noch unter ungünstigeren Bedingungen im Produktionsprozess und zu geringeren Löhnen tun. Zusätzlich wären sie durch die traditionelle Rollenverteilung mit Hausarbeit und Kinderbetreuung belastet. Es hieß treffend: „Arbeiterinnen leben in einem ständigen Zustand der Übermüdung.“
Der Verweis auf das Rollenmodell war allerdings eine zweischneidige Begründung, da er tendenziell die traditionelle Arbeitsteilung und Doppelbelastung der Frau auch für die Zukunft festschrieb. Noch deutlicher tritt dieses konservative Argument für eine Arbeitszeitverkürzung hervor, wenn es hieß, dass Arbeiterinnen kürzere Arbeitstage benötigten, um den Männern ein schöneres Zuhause zu schaffen. Die Forderung der Arbeiterinnen und Arbeiter – „Eine Stunde für uns! Eine Stunde für unsere Familie! Eine Stunde fürs Leben!“ – war dagegen die Konkretisierung eines universellen Anspruchs für Frauen wie für Männer, den Wilhelm Liebknecht schon auf dem SPD-Parteitag 1890 formuliert hatte: Das Recht auf Faulheit bedeute: „Wir leben nicht um zu arbeiten – wir arbeiten um zu leben“.
Auch nach fünfjährigen Verhandlungen über den Zehnstundentag waren die Unternehmer, die sich auf internationalen Konkurrenzdruck und technische Zwänge beriefen, nicht zu Zugeständnissen bereit. Als die Textilarbeiterinnen und -arbeiter den Streik ausriefen, reagierten sie mit Aussperrung. Zum ersten Mal stellten im kaiserlichen Deutschland die Arbeiterinnen die Hälfte der am Arbeitskampf Beteiligten. Die Unternehmer warben gezielt Streikbrecher an. Nach 22 Wochen war die Auseinandersetzung beendet. Was zunächst wie eine Niederlage für die Arbeiterschaft aussah, führte mittelfristig zum Erfolg: Im Jahr 1908 wurde der Zehnstundentag für Arbeiterinnen per Gewerbeordnung eingeführt. Damit ging nicht nur in der Crimmitschauer Arbeiterbewegung die Erkenntnis einher, dass sich durch organisierte Solidarität politische Ziele verwirklichen ließen.