Allgemeines, gleiches Wahlrecht

Das heute in der westlichen Welt als selbstverständlich hingenommene Wahlrecht vermag auf keine lange Tradition zurückzublicken. Der vormoderne, frühzeitliche Staat kannte lediglich die Repräsentation von Ständen und selbst die Vorstellungen der Liberalen gingen meist noch dahin, das „eigentliche Volk“ nach Besitz und Bildung zu begrenzen. Für die entstehende Arbeiterbewegung jedoch zählte eine Reformierung des bestehenden Systems von Anfang an zu den zentralen Programmpunkten. Bei der Vereinigung der deutschen Sozialdemokraten in einer Partei stand das „Allgemeine, gleiche, direkte Wahl- und Stimmrecht mit geheimer Stimmabgabe“ aller mindestens 20-Jährigen – einschließlich der Frauen – an der Spitze der konkreten Forderungen zur Demokratisierung der Staatsordnung.

In einem inneren Zusammenhang damit stand das Ringen um die Ausweitung des Parlamentseinflusses. Die Konzentration der politischen Macht in diesem Staatsorgan könne, so Karl Kautsky, ebenso gut dem sozialistischen Umbau wie der bürgerlichen Klassenherrschaft dienen, vorausgesetzt, die Masse der Arbeiter und der Deklassierten könne ihre Zahl über das Wahlrecht zur Geltung bringen. Es lag in der Logik dieser weitverbreiteten Ansicht, dass der sozialdemokratische „Rat der Volksbeauftragten“ in der Revolution von 1918/19 sogleich die noch bestehenden geschlechtlichen und altersmäßigen Hürden eines voll demokratisierten Wahlrechts beseitigte. Ebenso bedeutsam wie die Durchsetzung des Frauenwahlrechts war die Abschaffung überlieferter ungleicher oder eingeschränkter Wahlrechte in den Gemeinden und auf der Ebene der Einzelstaaten. Anders als im Süden Deutschlands, wo am Anfang des 20. Jahrhunderts demokratisierende Wahlreformen erfolgt waren, welche die Sozialdemokratie zu einer relevanten parlamentarischen Kraft machten, hielten sich in anderen Einzelstaaten oligarchische Wahlrechte, vor allem in Preußen.

Die außerordentlich große reale wie symbolische Bedeutung der Wahlrechtsforderung für die Sozialdemokratie kommt in der Arbeiter-Marseillaise zum Ausdruck. Für die Mehrheitssozialdemokraten wie bis zu einem gewissen Grad für die gemäßigten Unabhängigen Sozialdemokraten konnte es beim Sturz der Monarchie im Herbst 1918 keinen Zweifel geben, dass die Zukunft Deutschlands in die Hände einer demokratisch gewählten, souveränen, verfassunggebenden Nationalversammlung gehörte. Rätedemokratische, die Prinzipien des allgemeinen, gleichen Wahlrechts zumindest verzerrende Ansätze sowie Konzepte einer Verbindung von parlamentarischen und Räte-Strukturen wurden nicht nur mit pragmatischen Argumenten bekämpft, sondern auch mit Hinweis auf die Tradition der Partei zurückgewiesen.

Die zentrale Bedeutung der Wahlrechtsforderungen und -kämpfe in der Geschichte der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung ist im Bewusstsein der heutigen SPD kaum noch präsent, wohl auch wegen der relativ frühen Einführung des allgemeinen, gleichen Männerwahlrechts auf Reichsebene. Durch die Installation von modernen Diktaturen unterschiedlichen sozialen Charakters im zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts, die die Volkssouveränität einschließlich des demokratischen Wahlrechts nicht mehr theoretisch bestritten, sondern pseudo-plebiszitär umfunktionalisierten, trat der Gesichtspunkt der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl zugunsten desjenigen der freien Entscheidung des Volks zurück. In „freien Wahlen“ in allen vier Besatzungszonen beziehungsweise in beiden deutschen Staaten zu einer Deutschen Nationalversammlung sah die SPD in den späten 1940er und in den 1950er Jahren den natürlichen Weg zur Wiedervereinigung. Wie schon am 17. Juni 1953 stand angesichts der friedlichen Revolution im Herbst 1989/90 das Verlangen nach freien Wahlen, zunächst auf dem Territorium der DDR, schnell wieder auf der Tagesordnung der Sozialdemokratie.