Erich-Ollenhauer-Haus

„Mein Erinnerungsort“: Jochen Reeh-Schall

Ohrenbetäubender Jubel. Menschen liegen sich in den Armen. Es war geschafft. Kohl war weg. ER war weg. Es war, als wäre mit einem Mal der Mehltau über der Bundesrepublik weggeblasen worden. Ich bin 1972 geboren worden und hatte Siege der Sozialdemokraten auf Bundesebene eigentlich noch nie wirklich mitbekommen. Wahlabende im Bund sahen eigentlich bisher immer gleich aus: Am Ende war Kohl immer noch Kanzler und im Fernsehen erklärten ein paar übelgelaunte Spitzensozialdemokraten, warum wir eigentlich die moralischen Sieger seien und der Wähler das nur schon seit vielen Jahren immer noch nicht begriffen habe. Irgendwie hatte man schon im Wahlkampf gemerkt, dass alles anders war. Zwischen Schröder und Lafontaine „passte kein Blatt“. Man hatte das Gefühl, ausnahmsweise mal nicht nur zu den „Guten“ zu gehören, sondern auch zu den „Coolen“. Schröder, Fischer und die Hoffnung auf einen Rot-Grünen Wechsel, das war irgendwie Rock’n’Roll.

Nachdem wir am Vorabend der Wahl in der Bonner Weststadt erst einmal richtig reingefeiert hatten, sind wir am späten Nachmittag dann mit einer großen Gruppe Richtung Ollenhauer-Haus gezogen. Dort standen schon Festzelt und Sicherheitskontrolle aufgebaut. Trotz viel zu weniger Einlasskarten haben wir dann doch irgendwie die ganze Gruppe reingeschleust. Es war kurz nach fünf und langsam kehrte die Nervosität zurück. Waren die Umfragen in den letzten Wochen nicht deutlich runtergegangen, hatten wir am Ende nicht doch immer eins auf die Mütze bekommen? Nachdem man sich gegen kurz vor sechs mit dem mittlerweile dritten Bier und zahlreichen der damals noch auf Wahlpartys überall herumliegenden kostenlosen Zigaretten halbwegs ruhig gestellt hatte, kehrte plötzlich eine beängstigende Stille ein. Damals war noch nicht jeder Praktikant bereits um 16.30 Uhr per SMS über das voraussichtliche Ergebnis informiert worden und so konnte man das gespannte Knistern in der Luft spüren.

18.00 Uhr! Kohl ist weg. Jeder fällt jedem in den Arm. Seriöse Mitfünfziger im Anzug springen wie kleine Kinder durchs Festzelt und die Gänge des Ollenhauer-Hauses. Selbst im Pressebereich scheinen die meisten ihr Glück kaum fassen zu können und versuchen ihre Freude mühsam durch einen journalistisch-distanzierten Blick zu ersetzen. Der weitere Abend war eine Mischung aus unbändigem Feiern, Rechenspielen, ob es für Rot-Grün reicht, ob genügend Überhangmandate vorhanden wären, und der Befürchtung, der Gerd könnte lieber eine stabile Große Koalition bevorzugen. Irgendwann kamen sie dann auf die Bühne, die Zwillinge, zwischen die im Wahlkampf kein Blatt gepasst hatte: „Gerd und Lafontaine“, oder je nach politischer Präferenz auch „Oskar und der Schröder“. An die Details der Ansprache kann ich mich nicht mehr erinnern, irgendwann wurden die Absperrungen geöffnet und die Menschenmassen kamen aus der Stadt und dem Regierungsviertel, um mitzufeiern. Ausgeklungen ist der Abend dann in der niedersächsischen Landesvertretung, wo Rot und Grün gemeinsam den historischen Wechsel feierten. Und als die Sonne aufging, wusste ich, dass eine großartige Zeit bevorstand.