Das Konzept

Zusammenfassung
Als Erinnerungsorte gelten sowohl Personen, Institutionen und tatsächliche Orte als auch Symbole, programmatische Ideen und Texte. Besonderes Interesse verdienen die Perzeption und Rezeptionsgeschichte dieser ,Orte‘, da sie Erinnerung bedingen und ausmachen. Das kulturelle Gedächtnis der Sozialdemokratie lässt sich als eine seit mehr als 150 Jahren existierende und Milieu konstituierende politische Bewegung abbilden. Konkret sind hiermit drei Feststellungen verbunden: In SPD, Gewerkschaften und deren Umfeldorganisation bestehen erstens langlebige, Generationen überdauernde Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung und Identität. Zweitens sind diese Erinnerungsorte in gesellschaftliche, kulturelle und politische Beziehungsgefüge eingebunden und sie verändern sich, drittens, in dem Maße, in dem sich die Weise ihrer Wahrnehmung, Anwendung und Übertragung wandelt. Die Internetpräsentation der „Erinnerungsorte der deutschen Sozialdemokratie“ bietet im Wesentlichen zwei Einstiegsmöglichkeiten: eine Landkarte und eine Zeitreise.

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Die im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung entwickelte Internetpräsentation „Erinnerungsorte der deutschen Sozialdemokratie“ wendet sich an eine breitere historisch interessierte Öffentlichkeit. Als theoretischer Hintergrund dient das von dem französischen Historiker Pierre Nora seit den 1970er Jahren formulierte Konzept der lieux de mémoire, das für den deutschen Sprachraum adaptiert und präziser gefasst wurde. „Erinnerungsorte“ werden dementsprechend mit Etienne François und Hagen Schulze als langlebige, Generationen überdauernde Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung und Identität verstanden, die in gesellschaftliche, kulturelle und politische Beziehungsgefüge eingebunden sind und sich in dem Maße verändern, wie sich die Weise ihrer Wahrnehmung, Anwendung und Übertragung wandelt. Während Nora die französische Nation vor Augen hatte, lässt diese Definition genügend Raum, das Erinnerungsreservoir wesentlich kleinerer sozialer Gruppierungen zu analysieren.

Zur „Sozialdemokratie“ wird im Rahmen des Projekts nicht bloß die SPD mit ihrer im 19. Jahrhundert einsetzenden, wechselvollen Geschichte gerechnet, sondern ebenso die eng mit ihr verbundene politisch-kulturelle Bewegung jenseits festgeschriebener Organisationsstatuten. Als Erinnerungsorte gelten in diesem Zusammenhang sowohl Personen, Institutionen und tatsächliche Orte als auch Symbole, programmatische Ideen und Texte. Besonderes Interesse verdienen die Perzeption und Rezeptionsgeschichte dieser ,Orte‘, da sie Erinnerung bedingen und ausmachen. Wie eine Betrachtung der Novemberrevolution und Rosa Luxemburgs zeigt, können dabei umstrittene oder ambivalente Deutungen mit ihren jeweils zeitgebundenen, konjunkturellen Schwankungen eine große Rolle spielen. Andere Erinnerungsorte, beispielsweise der Kniefall von Willy Brandt in Warschau, scheinen mittlerweile weniger konfliktiv zu sein. Die zeitgenössisch höchst umstrittene symbolische Handlung des von der SPD gestellten Bundeskanzlers am 7. Dezember 1970 vor dem Ehrenmal der Helden des Warschauer Ghettos gehört heute nicht bloß zum sozialdemokratischen, sondern zum deutschen, wenn nicht internationalen Erinnerungskanon.

Häufig lassen sich in diachroner Perspektive ähnlich wie bei einer russischen Matrjoschka-Puppe verschiedene, übereinander gelagerte Erinnerungsschichten ausmachen. Mit einer anderen Metapher können „Erinnerungsorte“ auch als Palimpsest begriffen werden. Der Verweis auf das Abschaben und Waschen antiker Manuskriptseiten verdeutlicht den aktiven Prozess, mit dem die Tradierung und Konstruktion von historischer Erinnerung immer verbunden ist. Zugleich wird plausibel, dass Bedeutungszuschreibungen wiederholt durch neue, möglicherweise widersprüchliche Vergangenheitsdeutungen überschrieben werden können. Darüber hinaus können Erinnerungskonkurrenzen auftreten.

Davon gehen Etienne François und Hagen Schulze in ihrem dreibändigen Werk „Deutsche Erinnerungsorte“ ebenfalls aus. Von Nora inspiriert bieten sie ein deutlich konsistenteres Konzept an, zumal sie sich zusätzlich von dem französischen Soziologen Maurice Halbwachs anregen lassen haben. Dieser hatte sich bereits 1925 mit dem kollektiven Gedächtnis von Gruppen auseinandergesetzt. Kollektiverinnerungen stehen demnach oftmals in einem Spannungsverhältnis zu der Erinnerung von einzelnen Gruppenmitgliedern. Überdies handelt es sich prinzipiell um gegenwartsbezogene Analysen von Vergangenheit. Die aus diesen Erkenntnissen folgende Unterscheidung zwischen dem individuellen, kommunikativen und kollektiven Gedächtnis haben François und Schulze auf ihr Erinnerungsort-Konzept übertragen und damit hervorgehoben, dass Vergangenheitsbilder das Ergebnis von langwierigen gesellschaftlichen beziehungsweise gruppenspezifischen Aushandlungsprozessen sind.

Mithilfe der eingangs zitierten Begriffsbestimmung lässt sich das kulturelle Gedächtnis der Sozialdemokratie als eine seit mehr als 150 Jahren existierende und Milieu konstituierende politische Bewegung abbilden. Konkret sind hiermit drei Feststellungen verbunden: In SPD, Gewerkschaften und deren Umfeldorganisation bestehen erstens langlebige, Generationen überdauernde Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung und Identität. Zweitens sind diese Erinnerungsorte in gesellschaftliche, kulturelle und politische Beziehungsgefüge eingebunden und sie verändern sich, drittens, in dem Maße, in dem sich die Weise ihrer Wahrnehmung, Anwendung und Übertragung wandelt.

Dies kann am Beispiel des Erinnerungsorts „Das Sozialistengesetz“ illustriert werden. Für die im Deutschen Kaiserreich und während der Weimarer Republik aktiven Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen hatte das „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ eine andere, nämlich wesentlich konkretere, vielfach mit persönlichen Erlebnissen und Erinnerungen verbundene Bedeutung als für die unmittelbar nach 1945 oder heute tätigen Funktionäre und SPD-Mitglieder, wobei noch phasenbezogen zwischen dem west- und dem ostdeutschen Staat zu unterscheiden wäre. Gleichwohl bleibt ein verbindendes Moment: Die zwölf Jahre des „Sozialistengesetzes“ werden in der Sozialdemokratie als entbehrungsreiche, aber glorreiche Zeit erinnert, als erfolgreicher Widerstand und Opposition gegen die Obrigkeit, an die 1933 nach der nationalsozialistischen Machtübernahme angeknüpft werden sollte und die auch 1945/46 vor allem in der Sowjetischen Besatzungszone in Reden, Zeitungsartikeln und Broschüren reaktiviert wurde, als sich die SPD abermals massiven Repressionen und dem Vereinigungsdruck der von der Sowjetmacht gestützten KPD ausgesetzt sah.

Auch für Willy Brandt ließe sich dieses für Erinnerungsorte typische Verhältnis zwischen Konsistenz und Wandel über politische, ökonomische und kulturelle Umbruchserfahrungen hinweg ebenfalls detaillierter aufzeigen. Dabei ist im Wesentlichen zweierlei von Belang: Zum einen fällt auf, dass sich im kulturellen Gedächtnis vielfältige Bedeutungszuschreibungen und zu Ikonen geronnene Bilder mit dem ersten von der SPD gestellten Bundeskanzler verbinden. Diese sind nicht bloß im Vergleich zum „Sozialistengesetz“ oder der „Zwangsvereinigung“, um einen weiteren sozialdemokratischen Erinnerungsort konkret zu nennen, in weit überdurchschnittlichem Maße gesellschaftlich präsent. Runde Geburts- und Todesjahre von Brandt beziehungsweise Jahrestage seiner häufig symbolischen Handlungen verstärken diese Tendenz noch. Während die 1972 höchst erfolgreich realisierte Bundestagswahlkampagne „Willy wählen“ vor allem innerhalb der SPD in der Erinnerung fortlebt und als Beispiel für die immer nur scheinbar durchweg ,gute alte Zeit‘ herhalten muss, besitzt die Regierungserklärung „Mehr Demokratie wagen“ (1969) einen hohen Stellenwert für die gesamte bundesrepublikanische Geschichte. Die anlässlich des ersten offiziellen DDR-Besuchs des Kanzlers 1970 in Erfurt zu beobachtende Szene „Willy ans Fenster“ sowie der Kniefall in Warschau werden darüber hinaus, wie oben angedeutet, im europäischen Rahmen wahrgenommen und anhand ihrer Bedeutung im Ost-West-Konflikt und für die Überwindung der Spaltung Europas verortet. Zum anderen ist es bemerkenswert, dass sich Willy Brandt offensichtlich als Ganzes zu den sozialdemokratischen Erinnerungsorten rechnen lässt. Hierfür mögen seine charismatische Persönlichkeit und seine auf gesellschaftliche Öffnung und Reformen zielende Politik ins Gewicht fallen.

Fraglos erlaubt das Erinnerungsort-Konzept mannigfaltige Zugangsmöglichkeiten. Sein zentrales Merkmal – die Flexibilität – muss dabei beileibe kein Nachteil sein. Der vielfach erhobene Vorwurf der Beliebigkeit zielt letztlich ins Leere. Auch wenn der überwölbende, ziemlich vage Begriff der Erinnerungsorte dazu verführt, ihn so zu verengen, dass er nicht mehr notwendig ist, oder ihn umgekehrt so weit auszudehnen, dass er seine Signifikanz verliert, hat er sich als praktikables Werkzeug zur Analyse von Vergangenheitsbeständen und der Identitätskonstruktionen von sozialen Gruppen bewährt.

Zur Auswahlproblematik: Was macht einen sozialdemokratischen Erinnerungsort aus?
Jedes Erinnerungsort-Projekt steht vor dem Problem, welche Vergangenheitsbestände mit welcher Begründung ausgewählt werden sollen. Derartige Sammlungen muten häufig wie ein facettenreiches Kaleidoskop oder wie ein Sammelsurium an, das eher impressionistisch, denn nach stringenten Regeln zusammengetragen wurde. Sämtliche Perspektiven auf Vergangenheitsbestände und gegebenenfalls damit verbundene Deutungsansprüche und Symbolgehalte können in komplexen Gesellschaften schlechterdings nicht systematisch erfasst werden, von ihren zeitgebundenen Neuakzentuierungen ganz zu schweigen. Infolgedessen entstehen bei der Zusammenstellung von Erinnerungsort-Katalogen stets Auslassungen und blinde Flecken.

Diese Vielfalt ist auch der Internetpräsentation „Erinnerungsorte der deutschen Sozialdemokratie“ zu eigen, was keineswegs mit widersprüchlicher Disparität oder Beliebigkeit gleichzusetzen ist. Überdies geht es nicht um eine erinnerungskulturelle Kanonbildung, sondern das Projekt der Friedrich-Ebert-Stiftung vereinigt ein Deutungsangebot für die sozialdemokratische Geschichte, das grundsätzlich offen und ergänzungsfähig ist. Die Entscheidung, die Präsentation statt in Buchform im deutlich flexibleren Internet zu veröffentlichen, hängt damit eng zusammen. Um die Auswahl der Erinnerungsorte zu operationalisieren, wurden drei Kriterien festgelegt: Als erster und wichtigster Bezugspunkt sollte ein Vergangenheitsbestand über eine mutmaßlich große Trägerschaft verfügen. Das heißt, der jeweils fragliche Erinnerungsort sollte in der Sozialdemokratie bekannt sein und im Gruppengedächtnis eine herausgehobene Bedeutung haben. Zweitens spielt die emotionale Bindung eine Rolle. Verbindet sich mit dem Erinnerungsort eine bestimmte Symbolik, die zur Identifikation einlädt? Wie der Fall des Widerstands gegen den Nationalsozialismus zeigt, kann die Ablehnung einer Weltanschauung ebenfalls das sozialdemokratische Gruppenbewusstsein stärken – verstanden als Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Generationen überdauernden politisch-kulturellen Bewegung. Das dritte Kriterium, die Aktualität eines Erinnerungsorts, tritt demgegenüber etwas in den Hintergrund. Gleichwohl ist es nützlich, um gegenwärtig relevante mit ,erloschenen‘, nicht mehr unmittelbar für die Sozialdemokratie bedeutsamen Erinnerungsorten zu kontrastieren. Die anhand dieser Kriterien in einem diskursiven Prozess getroffene Auswahl spiegelt zweifelsohne den Blickwinkel der Projektgruppe wider. Selbst dieser war bereits nicht immer gleichgerichtet, sondern durch unterschiedliche Schwerpunktsetzungen, Werthaltungen und Interpretationsansätze geprägt.

Als Referenzgröße für die genannten drei Auswahlkriterien diente die heutige SPD-Mitgliedschaft, also eine im noch weitaus stärkeren Maße generationell, regional, sozioökonomisch und selbst politisch höchst ausdifferenzierte Gruppe. Begründete Vermutungen über das kollektive Gedächtnis der Sozialdemokratie im frühen 21. Jahrhundert waren somit im Auswahlprozess unvermeidlich. Die kritische, von Wolfgang Hardtwig in einer Rezension der „Deutschen Erinnerungsorte“ gestellte Frage: „Um wessen Erinnerung geht es eigentlich?“, gilt auch für das hier vorgestellte Internetprojekt. Allerdings wird dadurch nicht das Konzept erschüttert. Im Gegenteil: Die Inhomogenität von Gruppen lässt sich zum einen auf der theoretischen Makroebene mit der Legitimität des idealtypischen Vorgehens relativieren. Zum anderen zielt das Erinnerungsort-Konzept ja gerade auf die Identitätskonstruktionen von sozialen Einheiten als „imagined communities“ (Benedict Anderson). Die hiermit verbundenen Selbstzuschreibungen und Fremdthematisierungen sind folglich mit ihren spezifischen historischen Rahmenbedingungen im diachronen Wandel per definitionem in die Analyse einzubeziehen.

Um die Anwendung der Auswahlkriterien an zwei Beispielen zu illustrieren: Die Rede des SPD-Vorsitzenden Otto Wels gegen das „Ermächtigungsgesetz“ am 23. März 1933 in der Kroll-Oper als Erinnerungsort dürfte alle drei Kriterien voll erfüllen, da sie als mutige symbolische Widerstandshandlung im kulturellen Gedächtnis der Sozialdemokratie verankert ist, Empathie hervorruft und regelmäßig anlässlich von Jahrestagen aktualisiert wird. Zudem gehört die Wels-Rede zum bundesrepublikanischen Erinnerungsreservoir. Sie markiert als historische Wegmarke einen gewichtigen Versuch, die parlamentarische Demokratie zu verteidigen. Dagegen ist hinsichtlich des von der Projektgruppe ebenfalls identifizierten Erinnerungsorts „Der Revisionismusstreit“ größere Skepsis angebracht. Vor allem die beiden Kriterien „emotionale Bindung“ und „Aktualität“ sind schwach, wenn überhaupt ausgeprägt. Auch die Kenntnisse der SPD-Mitgliedschaft, einschließlich mancher Funktionäre, über diese um 1900 ausgetragene Theoriedebatte dürften eher gering sein. Dennoch zählt der Revisionismusstreit wegen seiner vormaligen Bedeutung für das sozialdemokratische Politik- und Selbstverständnis letztlich zu den für die Partei relevanten Vergangenheitsbeständen, zumal er während der Strömungsdebatten der 1970er Jahre vorübergehend revitalisiert wurde. Er kann insofern als ,erloschener‘ Erinnerungsort gelten.

Das Panorama der zusammengetragenen Erinnerungsorte reicht von prominenten Vordenkern der SPD wie Karl Marx und Ferdinand Lassalle über Ereignisse wie die Revolution von 1848 und Symbole wie die „rote Nelke“ bis zu bedeutenden Dokumenten wie dem Godesberger Programm und Institutionen wie dem Hauskassierer, der inzwischen vollends vom bargeldlosen Zahlungsverkehr abgelöst wurde, oder dem Parteibuch, das mit der im Jahr 2000 eingeführten SPD-Card konkurriert. Mit dem Sozialistenfriedhof in Berlin-Friedrichsfelde rückt schließlich ein tatsächlicher Ort als Vergangenheitsbestand in den Blick, der ähnlich wie Rosa Luxemburg politisch von mehreren Seiten in Anspruch genommen wird, namentlich von der zum Teil aus der SED/PDS hervorgegangenen Linkspartei und von der SPD. Alle Erinnerungsorte haben gemeinsam, dass sich aus ihnen im Ensemble betrachtet Gruppenidentitäten herauslesen lassen.

Die Gestaltung und Funktionalitäten der Internetpräsentation
Die Internetpräsentation der „Erinnerungsorte der deutschen Sozialdemokratie“ bietet zwei Einstiegsmöglichkeiten: eine Landkarte und eine Zeitreise. Der erste Weg zeigt räumliche Zentren von zu Vergangenheitsbeständen geronnener sozialdemokratischer Aktivität auf. Nach Berlin als langjährige Hauptstadt, Schauplatz von Revolutionen, Ort der Reichstagsverhandlungen und Sitz des SPD-Vorstands stechen Bonn und Leipzig hervor, das aufgrund seiner fortgeschrittenen ökonomischen Entwicklung und der verhältnismäßig liberalen Verfassung in Sachsen zu Beginn der 1860er Jahre zur Keimzelle der organisierten Arbeiterbewegung avancierte. Dort gründete Ferdinand Lassalle 1863 den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein. Nur sechs Jahre später riefen August Bebel und Wilhelm Liebknecht, 160 Kilometer entfernt, im thüringischen Eisenach die Sozialdemokratische Arbeiterpartei ins Leben. 1875 erfolgte unweit davon in Gotha die Vereinigung dieser beiden Parteien. Das heißt jedoch nicht, dass sich Erinnerungsorte im jeden Fall konkret räumlich verorten lassen. Für Wilhelm Liebknechts erstmals 1872 in Dresden gehaltenen Vortrag „Wissen ist Macht – Macht ist Wissen“ mag das noch funktionieren, obwohl der zum kulturellen Gedächtnis der Sozialdemokratie gehörende emanzipative Bildungsgedanke ortsungebunden ist. Der Anfang der 1930er Jahre als Symbol der Eisernen Front und Gegenentwurf zum nationalsozialistischen Hakenkreuz entwickelte Dreipfeil macht indessen die Schwierigkeit einer genauen Zuordnung von Erinnerungsorten vollends deutlich. Schließlich wurde das öffentlichkeitswirksame Zeichen im gesamten Reichsgebiet ubiquitär verwendet, so dass pragmatische Lösungen notwendig sind, um die Funktionalität der Internetpräsentation zu gewährleisten und das Ordnungsprinzip der Landkarte durchzuhalten.

Ähnliches gilt für die Zeitreise als zweiten möglichen Einstieg. Zahlreiche Erinnerungsorte lassen sich auf einer chronologischen Skala mehrfach zuordnen. Für Karl Marx sind zum Beispiel seine Geburt 1818 in Trier, die Veröffentlichung des Kommunistischen Manifests 1848 in London und seine dortige Beerdigung 1883 auf dem Highgate Cemetery denkbare Anknüpfungspunkte. Das vor 1933 wie nach 1945 für sozialdemokratische Jugendorganisationen typische Zeltlager kann mit einigem Recht mit der Gründung der Sozialistischen Arbeiterjugend im Jahr 1923 verbunden werden. Allerdings werden die ungezählten Falken-Lager nach dem Zweiten Weltkrieg dadurch zumindest bei der zeitlichen Einordnung etwas schwächer belichtet. Zudem erfreute sich diese Freizeitform bereits während des Deutschen Kaiserreichs große Beliebtheit. Auf welchen genauen Zeitpunkt ist schließlich der zu den Erinnerungsorten der Sozialdemokratie zählende, immer noch bestehende Sozialstaat festzulegen? In Betracht kommen frühe politische Forderungen in diese Richtung, auf die Otto von Bismarck als Reichskanzler in den 1880er Jahren mit seiner Sozialgesetzgebung reagierte, die Verabschiedung der Weimarer Reichsverfassung (1919) oder das sozialpolitisch Maßstäbe setzende Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland von 1949. Ebenfalls relevant ist die ab 1969 betriebene sozial-liberale Reformpolitik, die als „Umgründung“ des bundesdeutschen Staats beschrieben wurde. Für jede dieser zeitlichen Akzentsetzungen gibt es gute Argumente, fraglos lassen sich auch nachvollziehbare Zweifel anmelden. Im Rahmen der Internetpräsentation ist es wichtig, dass Zuordnungen geschichtswissenschaftlich begründet und gleichzeitig technisch handhabbar sind. Ein solches Vorgehen geht über das Erinnerungsort-Konzept von François und Schulze hinaus, stellt es jedoch in seinen Grundaussagen nicht infrage.

Sämtliche der solchermaßen angeordneten Erinnerungsorte werden mit einem rund 3.000 Zeichen umfassenden Kurztext präsentiert. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Rezeption der sozialdemokratischen Vergangenheitsbestände. Für eine zweite Projektphase sind nicht bloß eine mobile Fassung und eine Smartphone-App zur erweiterten Nutzung der bereits jetzt adressgenauen Verortung der Erinnerungsorte geplant, sondern zudem eine Vertiefungsebene, die weiterführende Informationen bündelt und Raum für tiefergehende Erörterungen lässt. Darüber hinaus finden sich bei jedem Text eine Bildleiste, erinnerungsortspezifische Verweise auf inhaltlich passende Ressourcen im Internet sowie, falls vorhanden, historische Tondokumente und Filme zum direkten Zugriff. Für die Novemberrevolution als Erinnerungsort der Sozialdemokratie ist beispielsweise die nachgesprochene Ausrufung der Republik durch Philipp Scheidemann abrufbar, wobei diese Anfang der 1920er Jahre entstandene Reproduktion – der zentralen Definition des Konzepts folgend – schon eine Form der Anwendung und Übertragung von Vergangenem darstellt.

Die jeweils etwa 15 Elemente umfassende Bildleiste wirft die Frage auf, wie sich Erinnerung adäquat bebildern lässt. Besonders einschlägig sind Fotografien oder Plakate anlässlich von Jubiläumsfeiern oder Gedenkstunden. Auch künstlerische Umsetzungen, so eine Zeichnung aus dem Jahr 1983, die Marx als Kumpel in Bergmannskluft zeigt und ihn auf diese Weise gegenwartsbezogen aktualisiert, machen eine signifikante erinnerungskulturelle Bedeutung sichtbar. Ob die Sozialdemokratie über ein Bildgedächtnis verfügt, ist eine weitere, hochkomplexe Fragestellung, die sich nur partiell mit dem Hinweis auf weithin anerkannte Ikonen wie die Aufnahme von Julius Leber vor dem nationalsozialistischen Volksgerichtshof oder das Kniefall-Bild beantworten lässt. Gerade bei ,erloschenen‘ Erinnerungsorten bewegt sich die Bebilderung in engen zeitgenössischen Grenzen, da Aktualisierungen in der Regel unterbleiben.

In Ergänzung zu den Einstiegen über Landkarte und Zeitreise, die zu dem beschriebenen Medienensemble führen, haben die Nutzerinnen und Nutzer der Internetpräsentation zusätzlich die Möglichkeit, über den Menüpunkt „Mein Erinnerungsort“ eigene Texte und audiovisuelle Materialien zu veröffentlichen. Die voreingestellte Sammlung ausgewählter sozialdemokratischer Vergangenheitsbestände mag dabei inspirierend wirken, stellt aber in keiner Weise eine bindende Vorgabe dar. Vielmehr zielt die zur Partizipation einladende Option darauf, auf gegebenenfalls bisher unberücksichtigte Erinnerungsorte aufmerksam zu werden. Die Übergänge zwischen dem individuellen, kommunikativen und dem kulturellen Gedächtnis sind in diesem Zusammengang ohne Zweifel fließend. In der technischen Umsetzung werden die von der Nutzerschaft hinzugefügten Erinnerungstexte, Bilder, Töne und Filme auf die ursprünglich identifizierten Vergangenheitsbestände bezogen. Somit nimmt der Grad der Vernetzung zu, die Erinnerungsorte fungieren tatsächlich als Kristallisationspunkte, an denen sich individuelle Erinnerungen anlagern können.

Ein vierter, eher spielerischer Einstiegsweg ist mit dem Quiz vorhanden. Die Fragen, die unter Zeitdruck zu beantworten sind, lauten „Wo bekannte sich die SPD zur sozialen Marktwirtschaft?“, oder: „Wo winkte Willy Brandt 1970 aus einem Hotelfenster?“ – um nur zwei Beispiele zu nennen. Gleichgültig ob persönlicher Ehrgeiz oder der Wettbewerb gegeneinander zum Auffinden der richtigen Städte auf der Landkarte motivieren, das Spiel verweist stets auf die mit den Erinnerungsorten verknüpften multimedialen Informationen.

Literaturhinweise
Etienne François/Hagen Schulze, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. I, München 2001, S. 9-24.

Pierre Nora, Les lieux de mémoire, 7 Bde., Paris 1984-1992.

Tilmann Robbe, Historische Forschung und Geschichtsvermittlung. Erinnerungsorte in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft, Göttingen 2009 (Formen der Erinnerung, Bd. 39).

Meik Woyke, „Erinnerungsorte der deutschen Sozialdemokratie“. Konzeption und didaktisches Profil einer Internetpräsentation für die historisch-politische Bildung, in: Jahrbuch für Politik und Geschichte 3, 2012, S. 149-169.