Arbeiterlied

Im Jahr 2005 sang Harald Schmidt in seiner Show die „Internationale“. Obwohl als Parodie auf die Gesangstradition der Sozialisten gedacht, sangen einige im Publikum mit. Bemerkenswert ist zweierlei: Die positiven Gefühle, die viele Menschen noch heute mit diesem mehr als hundertjährigen Lied verbinden, und die Intensität der Gefühle, mit der sie auf das Lächerlichmachen dieses musikalischen Symbols reagieren.

Arbeiterlieder sind eben bis heute keineswegs nur musikalische Untermalung – und das waren sie vor 150 Jahren noch viel weniger. Sie sind politisches Statement und musikalisches Symbol, sie sollen Solidarität und Stärke stiften, sie verbreiten Gesellschaftskritik in leicht fasslicher Form, sie kanalisieren Gefühle der Empörung und Wut und demonstrieren nach außen Geschlossenheit. Der politische Gebrauch von Liedern ist wesentlich älter als die Arbeiterbewegung. Sie wurden bereits in der Revolution von 1848 gesungen. Lieder spielten auf Festen, auf den politischen Versammlungen, bei Demonstrationen und Streiks sowie bei Beerdigungen sozialdemokratischer Genossen eine zentrale Rolle. Wie elementar ihre Wirkung vor allem auf politische Gegner war, zeigen die vielen Versuche, die Verbreitung dieser Lieder zu verbieten.
Den Status von Hymnen der frühen Sozialdemokratie erlangten die „Arbeiter-Marseillaise“, 1864 von Jacob Audorf als Reaktion auf den Duell-Tod Lassalles gedichtet, sowie das von Georg Herwegh im Jahr zuvor anlässlich der Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins in Leipzig verfasste „Bundeslied“. Erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg wurde schließlich die „Internationale“ zum meist gesungenen Lied der Sozialdemokratie.

Audiogalerie (3 Tondokumente)

"Brüder, zur Sone, zur Freiheit" (0:53)
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"Die Gedanken sind frei" (1:53)
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"Moorsoldatenlied" (3:08)
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In der Weimarer Republik entstand eine deutlich andere Arbeiterliedkultur: Nach 1918 wirkten viele der traditionellen Arbeiterlieder veraltet – inhaltlich wie musikalisch. Auch die bürgerliche Kultur hatte sich stark verändert. Seit der Jahrhundertwende waren zwei musikalische Extreme entstanden: die Avantgardebewegungen (sogenannte Neue Musik) und die Unterhaltungsmusik (Schlager und Operetten). Vor diesem Hintergrund erschien es den inzwischen gut 450.000 Mitgliedern der Arbeiter-Sänger-Bewegung zunehmend unangemessen, die ,alten‘ Lieder einzustudieren. So entstanden in den 1920er Jahren zahlreiche Agitprop-Gruppen, das heißt Laientheatergruppen, deren Erkennungszeichen immer ein Lied war. Eines der damals wie heute bekanntesten Stücke ist der „Rote Wedding“. Mit seinem einprägsamen Refrain „Links, links, links“ wurde es bald zum linken Demonstrationslied schlechthin. Die Musik komponierte Hanns Eisler, der auch die Melodien vieler anderer Kampflieder der 1920/30er Jahre schrieb.

Eisler rief 1934 – schon aus seinem Pariser Exil – mit dem „Einheitsfrontlied“ die gespaltene Arbeiterbewegung zum gemeinsamen Kampf gegen die nationalsozialistische Politik auf. Doch mit dem Verbot sozialdemokratischer und kommunistischer Vereinigungen stand ab 1933 auch das Singen von Arbeiterliedern unter Strafe. Gleichwohl erkannten die neuen Machthaber das Potenzial dieser alltäglichen Praktik der Vergemeinschaftung. So instrumentalisierten sie traditionelle Arbeiterlieder. Auch das eigentliche Arbeiterlied blieb trotz Verbot lebendig und bedeutsam. Zu erinnern sei hier an die Lieder, die die „internationalen Brigaden“ im Spanienkrieg sangen. Außerdem trafen sich die Gefangenengruppen der Konzentrationslager abends in ihren Blöcken, um heimlich gemeinsam die traditionellen Arbeiterlieder, aber auch die neuen – in der Haft geschriebenen – Lieder zu singen. Das erste und bekannteste Lied aus den Konzentrationslagern war das von Johann Esser, Wolfgang Langhoff und Rudi Goguel stammende Lied der „Moorsoldaten“. Gerade unter den Bedingungen der Haft diente die Vision einer gerechteren, glücklicheren Zukunft, die in den Liedern immer wieder formuliert wurde, der Stärkung des kollektiven Überlebenswillens.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ging das Arbeiterlied in den beiden deutschen Staaten sehr verschiedene Wege. Das Selbstbild der DDR beruhte auf Traditionen der Arbeiterbewegung und deren aktivem Kampf gegen das nationalsozialistische Deutschland. Das gemeinsame Singen traditioneller und neuer Arbeiterlieder spielte daher im öffentlichen Leben eine große Rolle. Die Lieder dienten in der DDR zur Selbstverständigung und der Erziehung zu einer kollektiven Identität.

In der Bundesrepublik Deutschland gingen die meisten politischen Organisationen bis in die 1970er Jahre auf kritische Distanz zum gemeinsamen Gesang traditioneller Lieder, zu stark war die Erinnerung an die singenden Kohorten des ‚Dritten Reichs‘. Nur in den Anfangsjahren der Bundesrepublik erklangen noch Arbeiterlieder.

Das änderte sich entscheidend im Jahrzehnt der Bürgerbewegungen und Streiks. Der gemeinschaftliche Gesang als Zeichen kollektiver Überzeugungen lebte auf. In den 1970er Jahren profilierten sich politische Liedermacher wie Hannes Wader, der neben Friedens- und Protestliedern auch an traditionelle deutsche und internationale Arbeiterlieder anknüpfte. Vor allem jüngere Aktivisten setzten sich für die Gründung von Gewerkschaftschören ein, die ihre Wurzeln im Arbeiterlied sahen und das Repertoire um internationale politische Lieder erweiterten.

Seit einigen Jahren scheint das gemeinsame Singen wieder zu einem festen Bestandteil des sozialdemokratischen Gemeinschaftslebens zu werden. 2003 sangen die Abgeordneten des Parteitags der SPD erstmals seit vielen Jahren wieder ein Lied zum Abschluss ihres Treffens. Die Wahl fiel auf das Arbeiterlied „Wann wir schreiten Seitʼ an Seitʼ“. Im März 2011 gründete sich in Berlin die Gruppe „Vorwärts-Liederfreunde“. Diese Entwicklungen verweisen auf den festen Platz, den die Lieder in den sozialen und politischen Aktivitäten der Arbeiterbewegung einnehmen.