Blauer Himmel über der Ruhr

Die Bundestagswahl 1961 brachte der Sozialdemokratie die vierte Niederlage in Folge und ist wohl auch deshalb weitgehend vergessen. Ein Satz auf dem SPD-Parteitag brannte sich jedoch ins kollektive Gedächtnis ein: „Der Himmel über dem Ruhrgebiet muß wieder blau werden“, forderte der Kanzlerkandidat der SPD. Der Satz wurde zum Mythos, zum ökologischen Bekenntnis avant la lettre. Und er stammte auch noch von Willy Brandt.

Eigentlich stand hinter dem Satz ein kurzfristiges Wahlkampfkalkül. Nach dem Godesberger Programm favorisierte die SPD Themen, die die Partei auch jenseits der traditionellen Arbeiterklientel attraktiv machten, und da war ein klassisches Gemeinwohlthema wie die Verschmutzung der Luft eine naheliegende Wahl. Tatsächlich entfaltete der Satz jedoch vor allem auf lange Sicht eine ungeheure Wirkung. Wann immer sich seither Politiker anderer Parteien mit umweltpolitischen Initiativen zu profilieren suchten, erinnerten sich die Genossen an ihren Vorsitzenden, der ja schon vor langer Zeit die Bedeutung des Themas betont habe. Besondere Bedeutung gewann der Satz in den 1980er Jahren, als sich die Sozialdemokraten mit der Konkurrenz der Grünen auseinandersetzen mussten. Die SPD, so der selbstbewusste Anspruch, sei ja schon grün gewesen, als die „forschen Ökos“ noch in Windeln lagen.
Brandts Parole fiel in eine Zeit, in der umweltpolitisch einiges in Bewegung gekommen war. Auch bei ökologischen Problemen wurden in den „langen 1950er Jahren“ wichtige Grundlagen gelegt: Expertengruppen fanden sich zusammen, erste Gesetze wurden verabschiedet und parteiübergreifend entstand ein Konsens, dass das Thema mehr Beachtung verdiene. Willy Brandts Bedeutung lag vor diesem Hintergrund vor allem auf der Ebene der Symbolpolitik: Erstmals besaß die Umweltproblematik das politische Gewicht, um im Wahlkampf thematisiert zu werden.
Zu einem visionären Zitat gehört das Unverständnis der Zeitgenossen, und so verbindet sich die Erinnerung an Willy Brandts „blauen Himmel“ zumeist mit dem Hinweis, die Forderung sei damals belächelt worden. Das ist freilich ein Missverständnis. Der zeitgenössische Spott zielte nämlich nicht auf das Anliegen, sondern auf die Motive, die Brandt zu der Formulierung animiert hatten. Seitdem sich die Partei im Godesberger Programm von ihrer marxistischen Tradition distanziert und auch noch das tradierte Rot durch ein „Godesberger Blau“ ersetzt hatte, stand die Sozialdemokratie im Ruch der programmatischen Beliebigkeit. Ein Spitzenkandidat, der sogar wortwörtlich das „Blaue vom Himmel“ versprach, war da eine naheliegende Zielscheibe.
Der „blaue Himmel“ verdient es, nicht nur von Sozialdemokraten erinnert zu werden, markiert er doch eine folgenreiche Schwelle der Umweltdebatte. Erstmals entwickelte sich zusätzlich zur Ebene der realen Politik eine Diskursebene, bei der es vor allem darum ging, aus eingängigen Formulierungen und Symbolen Kapital zu schlagen. Schon bei Brandt klafften Realpolitik und Symbolpolitik weit auseinander und der Abstand ist seither nicht geringer geworden. Darin besteht wohl nicht die geringste Herausforderung für die Umweltpolitik im 21. Jahrhundert.