Der Preußenschlag
Der Reichstagswahlkampf vom Sommer 1932 war der blutigste, den Deutschland je erlebt hatte. Die meisten Gewalttaten gingen auf das Konto von Kommunisten und Nationalsozialisten. Der Zusammenhang zwischen der Aufhebung des SA-Verbots und der Eskalation der Gewalt war offenkundig. Dennoch machte das Kabinett von Papen die preußische Polizei für den Straßenterror verantwortlich. In der Kabinettssitzung vom 11. Juli 1932 verlangte Reichsinnenminister Wilhelm von Gayl erstmals die Einsetzung eines Reichskommissars für Preußen und empfahl dem Reichskanzler, dieses Amt selbst zu übernehmen und Unterkommissare zu ernennen. Die Reichsregierung stimmte dem Vorschlag zu und setzte tags darauf als Termin der Reichsexekution gegen Preußen den 20. Juli fest.
Der preußische Innenminister, der Sozialdemokrat Carl Severing, durchkreuzte diese Planung jedoch, als er durch einen Erlass vom 12. Juli ein Verbot von Versammlungen und Aufzügen unter freiem Himmel erleichterte und die Polizei zu schärfstem Vorgehen gegen unbefugtes Waffentragen anhielt. Dem Schlag gegen Preußen war damit fürs erste der Boden entzogen. Dass die Reichsregierung ihren ursprünglichen Zeitplan doch noch einhalten konnte, lag am „Blutsonntag von Altona“, dem 17. Juli. Eine ungewöhnliche Häufung von politischen, administrativen und polizeilichen Fehlentscheidungen trug dazu bei, dass ein Demonstrationsmarsch der SA durch ‚rote‘ Hochburgen der (damals noch preußischen) Stadt 19 Tote aus der Zivilbevölkerung forderte – die meisten von ihnen wurden Opfer von Kugeln der Polizei. Da Severing es unterließ, sofort den Ausnahmezustand über Altona zu verhängen und dadurch Stärke zu demonstrieren, konnte die Reichsregierung nun von sich aus tätig werden. Ohne Absprache mit den Ländern erließ sie am 18. Juli ein allgemeines Verbot von Versammlungen unter freiem Himmel und bestellte drei preußische Kabinettsmitglieder, Wohlfahrtsminister Heinrich Hirtsiefer vom Zentrum, der den krankheitshalber beurlaubten Ministerpräsidenten Otto Braun vertrat, Innenminister Severing und den parteilosen Finanzminister Otto Klepper für den 20. Juli, 10 Uhr, in die Reichskanzlei. Was den drei Ministern durch von Papen bei dieser Gelegenheit mitgeteilt wurde, war der „Preußenschlag“.
Gestützt auf Artikel 48 ernannte der Reichspräsident den Reichskanzler zum Reichskommissar für Preußen und ermächtigte ihn, die Mitglieder des preußischen Staatsministeriums ihrer Ämter zu entheben, selbst die Dienstgeschäfte des preußischen Ministerpräsidenten zu übernehmen und andere Personen als Kommissare des Reichs mit der Führung der preußischen Ministerien zu betrauen. Sodann gab von Papen bekannt, dass er aufgrund der Verordnung den Ministerpräsidenten Braun und den Minister des Innern Severing ihrer Ämter enthoben und den Essener Oberbürgermeister Franz Bracht zum preußischen Innenminister ernannt habe. Die SPD büßte am 20. Juli 1932 die Reste der Macht ein, die sie nur deshalb so lange hatte behaupten können, weil sie seit dem Herbst 1930 alles auf eine Karte gesetzt hatte: die Abwehr des Nationalsozialismus auf dem Boden der Verfassung und im Bund mit den gemäßigten Kräften des Bürgertums. Als sich die Sozialdemokratie für diese Politik entschied, blieb sie sich selbst treu: Ihr Legalitätskurs entsprang der Absicht, den Bürgerkrieg, in dem sie das größte aller Übel sah, um jeden Preis zu vermeiden. Dieser Überzeugung war sie schon 1918/19 gefolgt. An diesem Credo hielt sie fest, als es außer ihr und dem Zentrum kaum noch überzeugte Verteidiger der Weimarer Reichsverfassung gab und die demokratischen Parteien zusammen nur noch eine Minderheit der Bevölkerung hinter sich wussten. Unmittelbar nach dem „Preußenschlag“ begann die ‚große Säuberung‘. Staatssekretäre und Ministerialdirektoren, Ober-, Regierungs- und Polizeipräsidenten, die den bisherigen Koalitionsparteien angehörten, wurden in den einstweiligen Ruhestand versetzt und durch konservative Beamte, häufig Deutschnationale, ersetzt. Von den vier sozialdemokratischen Oberpräsidenten blieb nur einer übrig: Gustav Noske. Der ehemalige sozialdemokratische Volksbeauftragte und Reichswehrminister stand nach Meinung der Reichsregierung so weit rechts von seiner Partei, dass er sein seit Juli 1920 ausgeübtes Amt behalten konnte. Die Hoffnung der Sozialdemokraten, der Regierung von Papen bei der Reichstagswahl vom 31. Juli 1932 die Antwort auf den „Preußenschlag“ geben zu können, ging nicht in Erfüllung. Das Wahlergebnis war, auf den ersten Blick jedenfalls, ein triumphaler Erfolg Hitlers.