Hermann Müller

Hermann Müller war der erste sozialdemokratische Außenminister in der deutschen Geschichte und derjenige Amtsinhaber, der die undankbarste Aufgabe übernehmen musste, die jemals einem Chef des Auswärtigen Amts gestellt wurde: die Unterschrift unter den Friedensvertrag von Versailles am 28. Juni 1919, wofür er bis zu seinem Tod 1931 von der nationalistischen Rechten als „Landesverräter“ verleumdet wurde. Mit einer Unterbrechung von acht Jahren – ein Unikum in der deutschen Parlamentsgeschichte – zog Hermann Müller zweimal in die Reichskanzlei ein: 1920 führte der erst 43-Jährige als bis dahin jüngster deutscher Regierungschef für drei Monate eine Übergangsregierung, 1928 bis 1930 dann das am längsten amtierende Kabinett der Weimarer Republik. Er war der bedeutendste der drei sozialdemokratischen Reichskanzler und darüber hinaus für ein Dutzend Jahre von 1919 bis zu seinem Tod Partei- und Fraktionsvorsitzender der SPD neben Otto Wels. Ein Mann des Ausgleichs, der die Wiedervereinigung mit der USPD 1922 meisterte, als Redner kein Agitator, sondern ein Aufklärer, ein Parteiführer mit Autorität, ohne autoritär zu sein: ein „guter Kamerad“, wie ihn die SPD-Abgeordnete Toni Pfülf charakterisierte.

Sein Sturz als Reichskanzler im März 1930 markiert den Beginn der Untergangsjahre der Weimarer Republik. Die folgenden Präsidialkabinette, zunächst unter seinem Nachfolger Heinrich Brüning, stützten sich nicht mehr auf eine Parlamentsmehrheit, sondern auf das letztlich unberechenbare Vertrauen des Reichspräsidenten. Obwohl Hermann Müller gegen Ende seiner Regierungszeit von seiner Partei schmählich im Stich gelassen wurde und schwer krank war, setzte er sein politisches Engagement fort, eroberte seinen alten Einfluss zurück und verpflichtete die SPD zur Tolerierung der Regierung Brüning, um Hitler zu verhindern. Als er 1931 mit erst 54 Jahren aus dem Leben gerissen wurde, nahmen in Berlin mehrere Hunderttausend Menschen an seiner Beisetzung teil, ein Beleg für die Organisations- und Mobilisierungskraft der Arbeiterbewegung, aber auch für Müllers Popularität.

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Hermann Müller spricht zur Reichstagswahl 1928. (3:56)
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Von dieser Popularität ist nichts übrig geblieben. Hermann Müller ist heute weitgehend vergessen, wofür in erster Linie der Traditions- und Überlieferungsbruch durch die zwölf Jahre der NS-Diktatur verantwortlich zu machen ist. Lediglich in seiner Geburtsstadt Mannheim wurde in den 1970er Jahren eine der hässlichsten Straßen, welche die Quadratestadt aufzuweisen hat, nach ihm benannt. Der Sturz Hermann Müllers wurde lange Jahre allein der SPD vorgeworfen, wobei heute der Fokus sehr viel stärker auf die Verantwortung der Koalitionspartner Zentrum und Deutsche Volkspartei (DVP) sowie des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg und dessen Umfeld gerichtet wird, die eine „nationale“ und über den Parteien stehende Regierung ohne Beteiligung der Sozialdemokratie anstrebten. Erinnert wird an Hermann Müller in der Publizistik immer dann, wenn es zu einer Großen Koalition auf Bundesebene kommt, zuletzt und verstärkt während der bedrohlichen Banken- und Wirtschaftskrise in den beiden letzten Jahren der Regierung Angela Merkel/Frank-Walter Steinmeier, als Parallelen zu dem Szenario nach dem „Schwarzen Freitag“ 1929 gezogen wurden.