Hermann Scheer
„Mein Erinnerungsort“: Michael Reschke
Die Suche nach den Schuldigen an der Diskursunfähigkeit der SPD ist müßig, aber zumindest Hermann Scheer vermag man sie mit Sicherheit nicht zuzuweisen. In der jüngeren Vergangenheit gab es wohl kaum einen anderen Politiker, der Intellektualität, Charisma und Leidenschaft, fachpolitische Expertise und die Fähigkeit zu strategischer Politik in vergleichbarem Maße vereinte. Seine Leitidee stellte dabei stets die wohlbegründete Annahme dar, dass den erneuerbaren Energien eine Schlüsselrolle für eine nachhaltige und fortschrittliche Entwicklung der Weltzivilisation zufiele. Mit ihnen verband er die Bewältigung der Klimakrise, die Erlangung sozialen Fortschritts sowie die Ermöglichung wirtschaftlicher Prosperität und demokratischer Revitalisierung. Er plädierte für das Aufbrechen des Energie-Oligopols, einen schnellen Ausstieg aus der Atomenergie und ein konsequentes Vorrangprinzip für erneuerbare Energien, deren Produktion dezentral organisiert zu sein habe. Unermüdlich und mit hohem Einsatz stritt er national wie international gegen große Widerstände für die Energiewende. Mit seiner letzten Veröffentlichung, dem „Energet(h)ischen Imperativ“, legte er einen handlungsorientierten Entwurf zu einer beschleunigten vollständigen Energieversorgung auf der Basis erneuerbarer Energien vor, der zugleich sein politisches Vermächtnis markiert.
Gleichzeit war er auch auf der Sachebene Wegbereiter des Wandels. Die Bilanz seines politischen Lebens untermauert dies auf beeindruckende Art und Weise – das Stromeinspeisegesetz für erneuerbare Energien (1991), der Auslöser des Erneuerbare-Energien-Booms und das Erneuerbare-Energien-Gesetz (2000), das 100.000-Dächer-Programm (1999) oder auch das Marktanreizprogramm Erneuerbare Energien (2000) gehen maßgeblich auf ihn zurück. Seit 1988 war er zudem Präsident der überparteilichen Vereinigung Eurosolar und begründete das Institut Solidarische Moderne mit. Als seinen größten Erfolg empfand er seinen letzten: Nach fast 20 Jahren intensiven Einsatzes konnte er 2009 die Gründung der Internationalen Organisation für Erneuerbare Energien (International Renewable Energy Agency, IRENA) feiern. Doch auch anderen Gebieten widmete er seine Aufmerksamkeit. Bei der Betrachtung seiner Publikationen fällt auf, wie sehr Scheer Zeit seines Lebens die Frage nach dem Zustand unserer Demokratie antrieb. Bereits in seiner Dissertationsschrift widmete er sich dem Thema unter dem Titel „Parteien kontra Bürger? Die Zukunft der Parteiendemokratie“ und legte 2003 mit der treffenden Zeitanalyse „Die Politiker“ nach.
Von 1980 bis 2010 Bundestagsabgeordneter und von 1993 bis 2009 Mitglied des SPD-Parteivorstands, erfuhr er jedoch lange Zeit eher außerhalb der deutschen Sozialdemokratie Anerkennung für sein Wirken. Für seinen Einsatz auf dem Gebiet der erneuerbaren Energien wurden ihm verschiedene Ehrendoktorwürden und Preise verliehen, beispielsweise 1999 der Right Livelihood Award („Alternativer Nobelpreis“). Die SPD dagegen stand erst bei seinem Tod geschlossen zu und hinter ihm, hatte sie doch einen realistischen Visionär verloren. In bemerkenswert einhelliger Form erfuhr Scheer nach seinem Ableben auch über die eigenen Parteigrenzen hinaus in zahlreichen Nachrufen Anerkennung und Respekt für sein Lebenswerk, die Energiewende in Deutschland maßgeblich eingeleitet zu haben.