Mein Weg zur Sozialdemokratie

Herbst 1989: Mein ältester Bruder ist unter denjenigen, die am ersten Oktoberwochenende trotz massiven Polizeiaufgebotes in Dresden für Freiheit und gegen das SED-Regime auf die Straße gehen. Er wird während dieser Demonstration verhaftet und „zugeführt“, wie das im Jargon der Staatssicherheit hieß, und nach Bautzen ins „Gelbe Elend“ gebracht. Unsere Familie hat Angst, viel Angst. Denn wir wissen nicht, wo er ist, wie es weitergeht. Erst zwei Tage später kommt mein Bruder wieder frei.

Dieser und ähnliche Momente waren es, in denen ich als 15-Jähriger verstanden hatte, dass es in jenen Herbsttagen um etwas Existenzielles ging. Ich hatte mich zwar vorher auch schon engagiert – n der Jungen Gemeinde und in der Schule – aber das war etwas anderes. Mir wurde in jenem Oktober schnell bewusst: Hier geht es um meine Zukunft. Hier ändert sich etwas grundlegend. Hier will ich mitmachen, hier will ich mitgestalten und verändern. Nicht nur zuschauen.

Mit Freunden bin ich, obwohl wir keine Mitglieder waren, im Oktober zur Sitzung der FDJ gegangen, die an unserer Schule die Grundorganisationsleitung (GOL) wählen wollte. Wir wollten kritisch ihr Statut diskutieren, was wir dann auch getan haben. Schließlich haben wir sogar erreicht, dass die Wahl abgesagt wurde und wir dadurch den vermutlich ersten Schülerrat der DDR wählen konnten. Das war mein erster richtiger politischer Schritt.

Der nächste Schritt führte mich in die Sozialdemokratie. Meine Familie lebte in der DDR, aber sie war eben nie Teil des sogenannten Arbeiter-und-Bauern-Staates. Bei uns zu Hause war im Rückblick eigentlich immer sozialdemokratisch diskutiert worden, ohne dass wir das je so genannt hätten. Gerade Willy Brandts Kniefall in Warschau, sein Besuch in Erfurt, seine Reden und seine Aura hatten uns beeindruckt. Deswegen war die Sozialdemokratie auch von Anfang meine politische Heimat. Mit anderen zusammen habe ich die Jungen Sozialdemokraten der SPD in der DDR gegründet, die sich dann später mit den Jusos in den heutigen alten Bundesländern, den Jungsozialisten in der SPD, zu einer gesamtdeutschen Jugendorganisation zusammengeschlossen haben.

Mit Schwante habe ich damals – 89/90 – noch nicht viel verbunden. Erst später habe ich mir Gedanken darüber gemacht, dass die Gründung der SDP für einen radikalen Bruch mit der DDR stand. So radikal, wie ihn keine andere Oppositionskraft in dieser Zeit gewagt hatte. Und so radikal, wie ihn auch keine andere Kraft wagen konnte. Inhaltlich, weil ihre Forderungen über den starren Rahmen der DDR bereits hinausgingen – aber vor allem als pure Provokation für die zwangsvereinigte SED. Das war mutig. Vor allem deswegen, weil keiner der Teilnehmenden wusste, welche Konsequenzen das für ihn haben würde.

Inzwischen ist eine neue Generation herangewachsen, die die Ereignisse des Wendeherbstes nur aus den Geschichtsbüchern kennt – eine Zeit, in der aus Angst und Wagemut Entschlossenheit wurde. Wir haben dadurch Freiheit und Demokratie gewonnen. Dank der Menschen, die mutig auf die Straße gegangen sind. Ich wünsche mir, dass dieser Geist des Herbsts 89 greifbar und verinnerlich bleibt. Demokratie will und muss täglich gelebt werden. Das bedeutet, sich einzubringen, Ideen zu artikulieren, sich einzumischen, wählen zu gehen. Eigentlich ist das ganz einfach. Und Angst muss dabei niemand mehr haben.