Parteilokal

„Die Vereinslokale wechselten ständig. Von der ‚Bockhalle‘ ging’s nach Förster am Moltkeplatz, von dort 1901 nach Keller in der Marienstraße, wo der Aufenthalt nur kurz war. Die genannten Wirte setzten aus Angst vor der Polizei sämtliche Vereine, einschließlich Gewerkschaften, auf die Straße, so daß die Bewegung lange Zeit obdachlos war und sich mit Privaträumen oder im Sommer mit ‚Mutter Grün‘ begnügen mußte.“

Schilderungen wie die des Bochumer Sozialdemokraten Philipp Sommerlad gibt es zahlreiche: Erst mit der Liberalisierung des Reichsvereinsgesetzes 1908 – also fast ein halbes Jahrhundert nach dem Entstehen erster sozialdemokratischer Organisationen und knapp 20 Jahre nach dem Auslaufen des ,Sozialistengesetzes‘ – wurde es für Arbeiterbewegung und -bewegte in ganz Deutschland normal, eine Gastwirtschaft zu besuchen, ohne aus politischen Gründen eher früher denn später hinausgeworfen zu werden. Dabei waren Lokale, Kneipen und Wirtshäuser zumeist die einzigen Orte öffentlicher Freizeitkultur, für die Arbeiter Zentren der Kommunikation und Begegnung, in denen der Alkoholkonsum lediglich zu einem Vergnügen unter vielen zählte – neben Zeitungslektüre, Tanzveranstaltungen, Theatervorstellungen, Konzertabenden, Übungsstunden von Gesang- und Turnvereinen.

Parteilokale für Sozialdemokraten existierten im Kaiserreich allgemein zwei Typen: Das eine Lokal gehörte einem klassischen Parteiwirt wie beispielweise „Bollmanns Gaststätte“ in Halberstadt, das schon 1873 zum Versammlungslokal der Sozialdemokratie wurde und auf eine noch längere sozialdemokratische Tradition zurückblicken kann. In einem gefestigten Milieu avancierten diese Räume zu „Parteizentrale, Treffpunkt, Informationsbörse und Versammlungsort“ (Thomas Adam). 30 Parteikneipen waren selbst in Leipzig 1887 eine stolze Zahl, von der man zum Beispiel im Ruhrgebiet nicht einmal zu träumen wagte. Dort, in einer Region weitgehend ohne Parteiwirte und -milieu, gründeten auch Sozialdemokraten mit den „Schnapskasinos“ jene gemeinnützigen Alkoholvertriebsgenossenschaften, die Polizei und Gerichte nicht belangen konnten und die zur zweiten Traditionslinie des Parteilokals wurden.

Ohne Gastwirtschaft, ohne Parteilokal ist die Erfolgsgeschichte der deutschen Sozialdemokratie kaum vorstellbar, jedoch kritisierte die Genossin Elise Scheibenhuber noch 1925 zu Recht: „Viele Frauen fühlen sich vom Parteileben zurückgestoßen, weil es sich in der Hauptsache in den Kneipen abspielt.“ Dort gründete eben auch die Dominanz der Männer in der Politik, während die Frauen mit Haushalt und Lohnarbeit doppelt belastet waren und den Parteilokalen fernblieben. Es handelt sich also durchaus um einen umstrittenen „Erinnerungsort“, dessen Bedeutung sich seit der Jahrhundertwende wandelte mit dem Bau und der Etablierung sogenannter Volkshäuser, die zugleich zu Häusern der Partei werden sollten.