Philipp Scheidemann
Fünf Minuten am 9. November 1918 haben ausgereicht, um Philipp Scheidemann einen Platz in den Geschichtsbüchern zu sichern. Wer den 1865 geborenen Nordhessen jedoch auf die Ausrufung der Republik reduziert, wird seiner Lebensleistung nicht gerecht. Seit 1903 gehörte er dem Reichstag an und profilierte sich dort als einer der glänzendsten Redner. 1911 wurde er in den SPD-Vorstand delegiert, ohne eine größere Affinität zur bürokratischen Verwaltungsarbeit zu entwickeln. 1912 rückte der als repräsentativ geltende Scheidemann als erster Sozialdemokrat zum Vizepräsidenten des Reichstags auf, wenn auch nur für einen Monat. Als 1913 August Bebel starb, war dies der Anfang einer sechs Jahre dauernden Rivalität: Der in der Parteiführung bewährtere Organisator Friedrich Ebert erhielt den Parteivorsitz neben Hugo Haase, während der erfahrenere Parlamentarier Scheidemann zu einem der drei Fraktionsvorsitzenden gewählt wurde. Während des Ersten Weltkriegs war er der bekannteste SPD-Politiker, was auch in der Bezeichnung „Scheidemann-Frieden“ zum Ausdruck kam, der ein Ende des Ersten Weltkriegs ohne Annexionen und Reparationen vorsah. Nach der Parteispaltung 1917 wurden die Ämter des zur USPD wechselnden Haase aufgeteilt, Scheidemann erhielt den Partei-, Ebert den Fraktionsvorsitz, wodurch beide formal gleichberechtigt waren.
Die neun Monate von Oktober 1918 bis Juni 1919 bildeten den Höhepunkt in Scheidemanns Karriere. Zunächst trat er als Minister ohne Geschäftsbereich in die Regierung des Prinzen Max von Baden ein und war damit neben Gustav Bauer der erste sozialdemokratische Minister in der deutschen Geschichte. Die tiefe Abneigung, die der letzte kaiserliche Kanzler und Scheidemann füreinander empfanden, war mit ein Grund dafür, dass der Prinz am 9. November seine Amtsgeschäfte an Ebert übertrug. Dessen heftige Kritik an der Proklamation der Republik galt dabei weniger dem unvermeidlichen als dem eigenmächtigen Vorgehen Scheidemanns. Im Rat der Volksbeauftragten stellten beide gemeinsam die Weichen für die Demokratisierung Deutschlands.
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Philipp Scheidemann ruft die Republik aus (Reproduktion, Anfang der 1920er Jahre). (1:55)
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Bei der Besetzung der beiden wichtigsten Ämter, welche die Weimarer Nationalversammlung zu vergeben hatte, unterschätzte Scheidemann das von Ebert angestrebte Amt des Reichspräsidenten und wurde als erster Sozialdemokrat Regierungschef auf Reichsebene. Dieser ersten folgte im Juni 1919 eine zweite Fehleinschätzung, als er sein Verbleiben im Amt demonstrativ an die Ablehnung des Versailler Friedensvertragsentwurfs knüpfte. Während zahlreiche Vertragsgegner, darunter auch Ebert, auf die Linie der Unterzeichnung umschwenkten, blieb Scheidemann nur der Rücktritt. Sichtbarstes Zeichen seines politischen Abstiegs war die Wahl zum Oberbürgermeister seiner Heimatstadt Kassel. Die Wirkungsmöglichkeiten auf Reichsebene beschränkten sich fortan auf gelegentliche Reden im Reichstag, dem er bis 1933 angehörte.
Ende Februar 1933 musste der von den Nationalsozialisten gehasste Sozialdemokrat den bitteren Weg ins Exil antreten. Seine in Deutschland verbliebenen Töchter und ein Enkel wurden in Sippenhaft genommen und kamen ums Leben. 1939 starb Scheidemann in Kopenhagen. Der 9. November wird in Deutschland nicht als „Tag der Republik“ gefeiert, weil es den NS-Machthabern gelungen ist, ihn mit der ‚Reichspogromnacht‘ 1938 zu diskreditieren. Dabei verdiente die historische Errungenschaft, dass Deutschland seit 1918 eine Republik ist, deutlich mehr Beachtung in der nationalen Erinnerungskultur.