Rote Nelke

„Es glühen rote Nelken, Freiheitssonnen entstammt,
Es lodern rote Gluten, Die Freiheitssehnsucht flammt…
Er naht der Tag der Tage, Der Freiheit Banner fliegt –
Weitauf, Weitauf, die Herzen, die rote Nelke siegt!“

Das Gedicht stammt von dem österreichischen Sozialisten Josef Friedmann, abgedruckt wurde es am 1. Mai 1909 in der Wiener Arbeiter-Zeitung. Es ist einem wichtigen Symbol der Arbeiterbewegung gewidmet, der „roten Nelke“, die für die aufgehende Sonne steht. 20 Jahre früher, auf dem internationalen Sozialistenkongress in Paris 1889, wurde nicht nur die II. Internationale gegründet, sondern auch beschlossen, jeweils im Mai Kundgebungen abzuhalten, wobei die „rote Nelke“ in einer Reihe von Mitgliedsorganisationen zum Sinnbild der internationalen Solidarität erhoben wurde.

Diese Nelkensymbolik hat historische Wurzeln, die bis ins Mittelalter zurückreichen, zudem war das „Blumentragen“ auch im Bürgertum des 19. Jahrhunderts weit verbreitet, doch erst die Arbeiterparteien machten daraus das Zeichen des politischen Aufbruchs. „Rote Nelke“ und 1. Mai gehörten seither untrennbar zusammen. Da polizeiliche Repression gegenüber Sozialdemokraten und Gewerkschaftern seinerzeit an der Tagesordnung war – in der Zeit des ,Sozialistengesetzes‘ waren Parteitreffen sowie das öffentliche Zeigen von Fahnen der Arbeiterbewegung untersagt – entwickelte sich die „rote Nelke“ im Knopfloch zum Zeichen der Zusammengehörigkeit und des Widerstands. Mit dem Wahltriumph der SPD im Februar 1890 und dem Fall des ,Sozialistengesetzes‘ wurde die Blume vor allem in Deutschland und Österreich Ausdruck eines neuen, öffentlich zelebrierten Selbstbewusstseins.
Die „rote Nelke“ mit ihrer historisch zweifachen Funktion: zum Protest aufzurufen und proletarische Identität sichtbar zu machen, war bis in die 1920er Jahre hinein Teil einer reichen Zeichensprache der Arbeiterkultur. Sie stand neben der älteren – der Französischen Revolution entlehnten – Allegorie der Freiheit, dargestellt als antike Frauengestalt mit Jakobinermütze; neben den verschlungenen Händen als Allegorie der Solidarität; neben der Allegorie des stilisierten Arbeiters, dargestellt als kraftvoller Schmied („Mann der Arbeit aufgewacht! Und erkenne deine Macht“), neben den drei Pfeilen, die seit 1932 Ausdruck von Kampfbereitschaft waren („gegen Kapitalismus, Faschismus und Reaktion“); und nicht zuletzt neben der Allegorie der Sonne als Hoffnung auf eine lichtvolle Zukunft („Brüder zur Sonne, zur Freiheit“).
Freilich wurde diese vielfältige, sozialdemokratisch geprägte Symbolkultur bereits im Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik nach und nach ihrer Integrationskraft beraubt: Die Internationalität der Arbeiterparteien hatte sich 1914 als Illusion erwiesen; der Graben zwischen der politischen Wirklichkeit der Republik und dem „Pathos vom sozialistischen Menschen und seiner geschichtlichen Mission“ (Peter Friedemann) wurde immer breiter; Sozialdemokraten und Kommunisten, die jeweils für sich das Erbe der II. Internationale samt deren Symbolen und Riten beanspruchten, standen sich unversöhnlich gegenüber und schließlich erodierten in der großen Krise ab 1930 Selbstwertgefühl und Solidarität der Arbeiterschaft, die sich in den alten Symbolen nicht mehr wiederfanden. Das NS-Regime stieß insoweit in ein ideologisches Vakuum vor, zerstörte die Reste der alten Arbeiterkultur und deutete deren Symbole im Sinne der eigenen Ideologie um. So verdrängte die Kornblume als Ausdruck eines romantisch verklärten Nationalismus die „rote Nelke“, der sozialistische Schmied mutierte in der nationalsozialistischen Ästhetik zum germanischen Übermenschen, der Kampftag der Arbeiter wurde zum Tag der Massenaufmärsche der ,Volksgemeinschaft‘ bis ,alles in Scherben‘ fiel.
Nach 1945 gab es im Westen Deutschlands nur noch rudimentäre Spuren der ehedem so reichen Symbolsprache. Zwar war es weiterhin üblich, sich am 1. Mai mit der „roten Nelke“ zu schmücken, doch stand dahinter keine authentische Botschaft mehr – Gewerkschaften waren Teil des Systems geworden, mit dessen positiven Errungenschaften, aber auch mit seinen Schattenseiten. Im anderen Teil Deutschlands, in der DDR, versuchte die SED, sich dieser älteren Traditionen zu bemächtigen, dabei der „roten Nelke“ in Aufmärschen und Zeremonien neuen Glanz zu verleihen, ähnlich wie ihre Nachfahren in der Partei „Die Linke“, die diesen Erinnerungsort jährlich am Grab von Rosa Luxemburg sichtbar zu machen versuchen. Die deutsche Sozialdemokratie wechselte, wie auch die sozialistische Internationale, von der „roten Nelke“ zur Rose, doch war und ist damit keine neue, identitätsstiftende Botschaft verbunden. Der Arbeitnehmer ist längst demokratischer Bürger geworden, der sich mehr der Mitte zuordnet als der „Arbeiterklasse“ – man sollte das nicht nur nostalgisch beklagen, sondern darin auch eine Erfolgsgeschichte erkennen. In der traditionsbetonteren österreichischen Schwesterpartei, der SPÖ, steht die „rote Nelke“ zwar auch nicht mehr für eine genuin sozialistische Botschaft, sie blieb jedoch ein wichtiges Parteisymbol und bei Beginn jeder neuen Parlamentssession ziehen die sozialdemokratischen Abgeordneten mit der „roten Nelke“ in den Sitzungssaal ein, um an ihre politische Herkunft zu erinnern.
International gab es am 25. April 1974 eine bewegende Renaissance der „roten Nelke“. An diesem Tag wurde in Portugal die älteste Diktatur Europas durch den Aufstand junger Soldaten gestürzt. Bei ihrem Einmarsch wurden sie in Lissabon begeistert empfangen, ihre Gewehre mit roten Nelken geschmückt – der Aufstand ging in die Geschichtsbücher als „Revolução dos Cravos“, als Nelkenrevolution ein. Die Revolutionäre fühlten sich freiheitlich-sozialistischen Ideen verpflichtet, die „rote Nelke“ wurde zum Zeichen der Freiheit eines ganzen Landes. Sie knüpften damit an jene kämpferische Tradition an, die 1890 durch diese Blume symbolisiert worden war.

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