Traditionsfahne

Der besondere Anmutungscharakter der Traditionsfahne, durch den sie auf den Betrachter wirkt, ist nicht zuletzt das Ergebnis einer wechselvollen Geschichte, die sie zwar nicht ohne sichtbare Blessuren, aber doch im Großen und Ganzen heil überstanden hat. Auch die Herkunft aus Breslau, der Heimatstadt Ferdinand Lassalles, verleiht dem Parteibanner eine besondere Prominenz. Als Ikone der Arbeiterbewegung schmückt das Abbild der Traditionsfahne heute eine Vielzahl von Publikationen. Die Original-Fahne, die manchmal auch als „Lassalle-Fahne“ oder „Sozialistenfahne“ bezeichnet wurde, ist 1,85 Meter hoch und 1,69 Meter breit und wird im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn aufbewahrt.

Auf ihrer Vorderseite befinden sich auf rotem Grund die Inschriften „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ und „Einigkeit macht stark!“. In der Mitte steht das Symbol der Arbeiter-Verbrüderung, die verschlungenen Hände, umgeben von einem Eichenkranz. Diesen schmückt eine Schleife mit der Inschrift „23. Mai 1863“ – „Ferdinand Lassalle“. Die Rückseite zeigt die Inschrift: „Die social-demokratischen Arbeiter zu Breslau“.
Als Ferdinand Lassalle am 23. Mai 1863 in Leipzig den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV) gründete, fand dies in seiner Heimatstadt Breslau zunächst kaum Resonanz. Erst im Mai 1868 wurde der Breslauer ADAV ins Leben gerufen. Fünf Jahre später, am 21. Juni 1873, fand im „Schießwerder-Saal“ das Stiftungsfest des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins statt. Bei dieser Festveranstaltung wurde auch die Parteifahne geweiht. Anders als es die Fahneninschrift vermuten lässt, gestalteten sich die Beziehungen innerhalb der Breslauer Arbeiterbewegung zu diesem Zeitpunkt keineswegs harmonisch. Lassalleaner und „Eisenacher“ – Anhänger der 1869 von August Bebel und Wilhelm Liebknecht gegründeten Sozialdemokratischen Deutschen Arbeiterpartei (SDAP) – bekämpften sich auf das Heftigste. Erst der wachsende polizeiliche Druck auf die Arbeiterbewegung, Gefängnisstrafen für führende Sozialdemokraten, Vereins- und Versammlungsschließungen, führten schließlich auch in Breslau zur Annäherung der verschiedenen Fraktionen und 1875 zum Zusammenschluss von „Eisenachern“ und Lassalleanern in der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP).
Der Entwurf für die Traditionsfahne stammte von dem Breslauer Eisendreher Paul Friedrich (1849–1913). Er griff dabei auf optische Symbole zurück, die in der Festkultur der Arbeiterbewegung eine besondere Rolle spielten. Dazu zählte in erster Linie die Farbe Rot – ursprünglich eine Farbe, die den Herrschenden und dem Adel zugeordnet war. Im 19. Jahrhundert entwickelte sie sich immer mehr zum Signal des sozialen Protests, zu einer Leitfarbe der aufbegehrenden Arbeitermassen. Schon in der von Ferdinand Freiligrath 1848 gedichteten „Reveille“ hieß es im Refrain: „Und unsre Fahn ist rot!“ Der Schriftzug „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, das Motto der Französischen Revolution von 1789, war für die Sozialdemokratie im 19. Jahrhundert von zentraler Bedeutung, Die Mahnung „Einigkeit macht stark!“, der Ruf nach Organisation und Solidarität, zählte zu den zentralen Einsichten des sich als soziale Klasse konstituierenden Proletariats. Die verschlungenen Hände – ein Zeichen, das schon in der Antike Verwendung fand (Concordia) – tauchte im 18. Jahrhundert unter anderem in den Freimaurerlogen auf. Es avancierte in der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts zum sozialistischen Symbol schlechthin. Die Erinnerung an Ferdinand Lassalle, dessen Name auf der Fahne mit dem Eichenkranz verknüpft ist, blieb trotz des Aufgehens des ADAV in der vereinigten Sozialdemokratie ab 1875 und der späteren Übernahme der marxistischen Theorie in der deutschen Sozialdemokratie zentraler Bestandteil der innerparteilichen Festkultur. Eine zentrale Rolle spielten Fahnen der Arbeiterbewegung später bei den Mai-Feiern, den zahlreichen Stiftungsfesten sowie bei Beerdigungen von Parteimitgliedern. Die Breslauer Traditionsfahne wurde anlässlich der Beerdigung ihres Schöpfers Paul Friedrich mit auf den Freireligiösen Friedhof in Breslau genommen, durfte dort aber auf Geheiß der Polizei nicht enthüllt werden.
Auf den besonderen emotionalen Stellenwert der Breslauer ADAV-Fahne verweist die Entscheidung des sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Julius Kräcker (1839–1888), das Banner 1886, auf dem Höhepunkt der polizeilichen Verfolgungen während des ,Sozialistengesetzes‘, ins Ausland bringen zu lassen. Julius Motteler nahm sie später mit dem Fundus des Parteiarchivs aus Zürich mit ins Londoner Exil. Nach dem Ende des ,Sozialistengesetzes‘ 1890 kehrte die Traditionsfahne nach Breslau zurück. Sie begleitete die dortigen Sozialdemokraten auch bei zahlreichen Kundgebungen in den Jahren der Weimarer Republik. Um sie in der Zeit des Nationalsozialismus vor Zerstörung zu schützen, wurde sie, von einer Hülle umgeben, zunächst in einem Schrebergarten vergraben, ab 1942 dann abwechselnd bei verschiedenen Breslauer SPD-Mitgliedern aufbewahrt. Als letzter hielt sie der Installateur und Brunnenbauer Karl Simon in einem Keller versteckt, wo sie die Schlacht um Breslau überstand. Simon trug sie bei der Flucht nach Westdeutschland mit sich; 1947 übergab er sie auf dem in Nürnberg stattfindenden SPD-Parteitag dem Parteivorsitzenden Kurt Schumacher, der sie mit in die Odeonstraße nach Hannover nahm, dem damaligen Sitz des SPD-Vorstands. Nach dem Umzug des Parteivorstands nach Bonn gelangte die Fahne in die Bonner „SPD-Baracke“ und später in das Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Als Symbol sozialdemokratischer Tradition wurde die Parteifahne auch in den folgenden Jahren immer wieder in der Öffentlichkeit gezeigt. Als Kurt Schumacher 1952 starb, bedeckte die Traditionsfahne seinen Sarg. Allerdings war die Einschätzung der mit ihr verbundenen Symbolik in der Nachkriegszeit einem Wandel unterworfen, der zeitweise zu einer Entwertung zu führen drohte: Der brüderliche Handschlag war nach der Zwangsvereinigung von SPD und KPD zur SED in der DDR zum Markenzeichen der ostdeutschen Einheitspartei pervertiert. Auch die Farbe Rot geriet zunehmend in Misskredit. Als 1953 beim Frankfurter Wahlkongress der SPD rund hundert rote Fahnen, darunter auch die Breslauer Traditionsfahne, in den Saal getragen wurden, brachte dies der Partei negative Presseberichte ein. Für die Sozialdemokraten bestand die Gefahr, in die Nähe der Kommunisten gerückt zu werden. In Zukunft beschränkte man sich daher auf die Präsentation einer einzigen Fahne, der Breslauer Traditionsfahne. Auf dem SPD-Parteitag 1960 in Hannover, auf dem Willy Brandt zum Kanzlerkandidaten gewählt wurde, trat die traditionelle Symbolik ganz zurück: Außer einem roten Nelkenstrauß und der verloren wirkenden Traditionsfahne sah die Parteitagsregie kaum mehr rote Akzente vor. Der Aufschwung der Forschungen zur Sozial- und Arbeitergeschichte seit den 1970er Jahren und nicht zuletzt eine selbstbewusst vorangetriebene sozialdemokratische Geschichtsarbeit führten wieder zu einem wachsenden Interesse an den Symbolen der Arbeiterbewegung und ihrer Geschichte.
2013, im Zeichen der Wiederbesinnung der SPD auf die Werte gesellschaftlicher Solidarität und dem Jubiläum des 150-jährigen Bestehens der deutschen Sozialdemokratie als Partei, wurde der Breslauer Fahne neue Wertschätzung zuteil. Seit April 2013 schmückt die Ikone der Arbeiterbewegung eine 1,45-Euro-Briefmarke der Deutschen Post. Der SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück stempelte das erste Sortiment mit einem Porträt des Parteigründers Ferdinand Lassalle.