Willy Brandt in Erfurt

Willy Brandts Ostpolitik erforderte mutige Schritte, sollten sich die Beziehungen zu den Nachbarn im Osten entspannen. Die größte Herausforderung stellte die DDR dar: Konnte das diktatorische Regime zum Gesprächspartner der Bundesregierung werden? Würden offizielle Kontakte auf höchster Ebene nicht die Teilung Deutschlands anerkennen? „Auch wenn zwei Staaten in Deutschland existieren, sind sie doch füreinander nicht Ausland; ihre Beziehungen zueinander können nur von besonderer Art sein“, erklärte Willy Brandt am 28. Oktober 1969. Den Zusammenhalt der deutschen Nation trotz staatlicher Teilung zu wahren, war das Ziel des neuen Bundeskanzlers. „Wandel durch Annäherung“, die 1963 von Egon Bahr ersonnene Formel, nahm nun praktische Gestalt an.

Ohne Verhandlungen zwischen den Regierungen konnte dies nicht umgesetzt werden. Willy Brandt war die historische Bedeutung des Treffens anzumerken, als er am 19. März 1970 nach Erfurt reiste. Nie zuvor hatten die Spitzen beider deutscher Staaten miteinander gesprochen. Am Bahnhof begrüßte ihn Ministerpräsident Willi Stoph. Die DDR hatte im Vorfeld durchaus Sympathiebekundungen für den Gast aus dem Westen befürchtet. Doch die Begeisterung für den Bundeskanzler überwand kurzzeitig alle Sperrmaßnahmen der Staatssicherheit und Polizei. Auf dem kurzen Weg zum Tagungsort, dem Hotel „Erfurter Hof“, ertönten die „Willy, Willy“-Rufe immer lauter. Zweifel, welchen der beiden Regierungschefs die Tausenden meinten, hatte niemand. Auch nachdem Brandt das Hotel erreicht hatte, ebbte die Begeisterung nicht ab. Sprechchöre forderten den Bundeskanzler auf, ans Fenster zu treten. Gern folgte er dieser Bitte nicht. Die Verhandlungen mit der DDR-Spitze wollte Brandt nicht belasten, aber insbesondere konnte er nicht für die Sicherheit derer einstehen, die ihm zujubelten. Daher mahnte der Kanzler mit nach unten gesenkten Händen zur Ruhe. Er befürchtete, Hoffnungen zu wecken, die er nicht würde erfüllen können.

„Erfurt“ stand seither für die Ablehnung des DDR-Regimes durch die Mehrheit der Bevölkerung und für ihre Unterstützung der Brandtschen Ostpolitik. Ob die spontane Kundgebung auch als Wunsch nach nationaler Einheit gewertet werden kann, lässt sich letztlich nicht klären. Aber ein Ende der Abschottung nach Westen wollten die Demonstranten sicherlich. Doch auch für Brandt war der 19. März ein besonderes Ereignis, so schrieb er später in seinen Erinnerungen: „Gab es einen Tag in meinem Leben, der emotionsgeladener gewesen wäre?“

Der Regierung in Ost-Berlin waren die Vorkommnisse eine Mahnung, künftig Gäste aus dem Westen noch restriktiver abzuschotten. Helmut Schmidts Besuch in Güstrow 1981 und Willy Brandts Aufenthalt in der DDR 1985 waren begleitet von geradezu grotesken Vorsichtsmaßnahmen der Staatssicherheit. Im März 1990 wiederholte Willy Brandt seine Reise nach Erfurt. Noch war es ein Besuch in einem anderen Staat, der sich aber in den Monaten zuvor grundlegend verändert hatte. Wissenschaftliche und heimatkundliche Publikationen beschäftigten sich mehrfach mit dem Besuch von 1970. Das Dach des Hotels „Erfurter Hof“ trägt seit 2009 den Schriftzug „Willy Brandt ans Fenster“. Ein Jahr später sendete der Mitteldeutsche Rundfunk eine Dokumentation zum Treffen von Erfurt.