Die Kanalarbeiter
Die politische Instabilität der Zwischenkriegsjahre, gekennzeichnet durch die ungelöste soziale Frage und eine fortbestehende Klassenspaltung, und dann Verfolgung und Widerstand während der NS-Diktatur – das waren die identitätsstiftenden Erfahrungen der Kanalarbeiter. Viele von ihnen waren während der Weimarer Republik als Jugendliche in der Arbeiterbewegung aktiv. Nach 1945 beteiligten sie sich am Wiederaufbau der SPD.
Die Kanalarbeiter waren eine informelle Gruppe von Bundestagsabgeordneten, die sich Ende der 1950er Jahre zunächst eher aus Gründen der Geselligkeit zusammenfanden. Ihr unumstrittener Wortführer war Egon Franke (1913-1995), auch „Canale Grande“ genannt, 1969 bis 1982 Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen. Franke war während der nationalsozialistischen Herrschaft viele Jahre als politischer Gefangener inhaftiert gewesen.
Anlass für einen festeren Zusammenschluss, der aus den freundschaftlichen Bindungen eine Gruppe mit politischer Intention machte, war die Verärgerung über den damaligen SPD-Fraktionsgeschäftsführer Karl Mommer. Der promovierte Sozialwissenschaftler pflegte vor Auslandsreisen die Abgeordnetenkollegen zu sich zu zitieren, um mit ihnen in Fremdsprachen zu parlieren. Wer das nicht konnte, durfte nicht mitfahren. Dieses Gebaren rief Erinnerungen an bürgerliche Standesdünkel und verwehrte Bildungschancen wach, die die Kanalarbeiter erlebt hatten.
Die Geburtsstunde des Namens „Kanalarbeitergewerkschaft“ war ein Boykott des Parlamentsrestaurants. Aus Protest gegen zu kleine Portionen holten sich einige SPD-Bundestagsabgeordnete Brot und Wurst am Kiosk an der Ecke. Im Restaurant bestellten sie nur Besteck. Auf die Frage eines Journalisten, was denn los sei, antwortete der bayrische Abgeordnete Karl Herold: „Ach was, wir sind die Gewerkschaft der Kanalarbeiter“. Mit dieser selbstironischen Titulierung wollten sie zum Ausdruck bringen, dass sie zwar nicht zur Elite der Fraktion gehörten, im Hintergrund aber wichtige Arbeit leisteten. Außerdem signalisierten sie die Nähe zu ihrem, dem Arbeitermilieu.
Das Bekenntnis zur eigenen Herkunft ließ die Kanalarbeiter jedes elitäre Bewusstsein ablehnen. Ihr Selbstverständnis war durchaus klassenbewusst, aber nicht dogmatisch. Ihre Vorstellung von Sozialismus und linker Politik orientierte sich an der Interessenslage der Arbeitnehmerschaft und an den tatsächlichen praktischen Fortschritten für die Gesellschaft. Nach den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus und dem Kommunismus, verbunden mit der schwer zu verschmerzenden Spaltung der Arbeiterbewegung, standen sie geschlossenen ideologischen Konzepten distanziert gegenüber. Den durch das Godesberger Programm vollzogenen Schritt der SPD hin zum weltanschaulichen Pluralismus haben die Kanalarbeiter unterstützt.
Die Ansichten zu einzelnen – auch grundlegenden Fragen – konnten sehr unterschiedlich sein. So gab es bei den Kanalarbeitern sowohl Befürworter der Großen Koalition von 1966 sowie der Notstandsgesetze als auch Skeptiker. Verbindendes Element war stets die kulturelle Identität und die Solidarität mit der SPD. Ein geschlossenes Erscheinungsbild der Partei war wichtig für die Kanalarbeiter. Meinungsverschiedenheiten gehörten intern ausgetragen und nicht in die Öffentlichkeit.
Das bleibende Verdienst der Kanalarbeiter war eine Integrationsleistung. Sie erleichterten es der Arbeiterschaft, sich mit der – in den ersten Jahrzehnten bürgerlich regierten – Bundesrepublik zu identifizieren, denn sie nahmen den neuen deutschen Staat innerlich an, pflegten dabei aber stets die Nähe zum Arbeitnehmermilieu. Damit waren sie für die Arbeiterschaft und die Gewerkschaften glaubwürdige Repräsentanten im politischen System.
Eben diese Versöhnung der Arbeiterschaft mit der – letztendlich doch marktwirtschaftlich und westlich ausgerichteten – Bundesrepublik haben die in den 1970er Jahren erstarkenden Neomarxisten in der SPD den Kanalarbeitern zum Vorwurf gemacht. Von den revolutionären Bürgersöhnen der studentischen Linken ließen sich die Kanalarbeiter in Fragen des Klassenkampfs aber ungern belehren. Gemeinsam mit dem Anfang der 1970er Jahre entstandenen Seeheimer Kreis traten die Kanalarbeiter immer für eine regierungsfähige, pragmatisch orientierte Linie in der SPD ein.