Willy wählen!
Der Bundestagswahlkampf von 1972 gilt als einer der ersten personalisierten Wahlkämpfe der SPD, wie überhaupt schon die vorherigen Kanzlerkandidaturen Willy Brandts stark auf seine Persönlichkeit und sein Medien-Image als „deutscher Kennedy“ ausgerichtet waren. Nicht die SPD, nicht die regierende Koalition zu unterstützen, nein schlicht „Willy wählen!“ wurde daher zu dem hervorstechenden Slogan dieses Wahlkampfs erhoben, zu finden auf zahlreichen Plakaten, Flugblättern und Ansteckern.
In den 1960er Jahren hatten zunehmende Medialisierung von Politik, aber auch die allgemeine gesellschaftliche „Aufbruchstimmung“ dazu geführt, dass in vielen westlichen Ländern junge Politiker die Spitzenämter erobern konnten und die Generation der 1950er-Jahre-Größen endgültig ablösten. Wie John F. Kennedy in den USA stand auch Willy Brandt nicht nur für eine neue Gesellschafts- und Außenpolitik, sondern auch für den Zeitgeist einer Epoche: modern, ja fast glamourös wollte man sein, weltmännisch und attraktiv.
Der Wahlkampf 1972 war für Brandt allerdings von anderen Voraussetzungen geprägt, denn er war seit drei Jahren Kanzler, kämpfte also für den Verbleib, nicht für die Eroberung des Amts. Die Politik der letzten Jahre hatte viele Befürworter gefunden, zugleich aber auch eine große Zahl von Gegnern auf den Plan gerufen. Entsprechend spielte der Wahlkampf mit dem Antagonismus in der bundesdeutschen Gesellschaft, die zwischen dem Willen zum Aufbruch und der starken konservativen Beharrungstendenz in zwei Lager gespalten schien. „Willy wählen!“ hieß ein Votum abgeben für den Macher der Ostpolitik und den Friedensnobelpreisträger. „Willy wählen!“ hieß aber auch, seine Politik, sein Programm von „Mehr Demokratie wagen!“ zu unterstützen.
Brandts Anhängerschaft bewunderte ihn mit fast religiösem Eifer, seine Gegner hingegen verachteten ihn mit ebensolcher Verve. Der Wahlkampf war daher hoch emotional und konnte, wie die später sensationell hohe Wahlbeteiligung von 91,1 Prozent zeigte, wie kein anderer Wahlkampf in der Bundesrepublik davor und danach wahrhaft die Massen bewegen. Besonders junge Wähler/innen strömten in Scharen zur Sozialdemokratie und das obwohl der Gegenkandidat der Union, Rainer Barzel, ebenfalls mit Jugendlichkeit aufwarten konnte. Im Gegenzug hieß das wiederum für die SPD-Strategen, dass sich Brandt nun mehr als Amtsträger denn als junger Star von morgen präsentieren musste, ohne dabei allzu staatsmännisch zu wirken. „Auf den Kanzler kommt es an“ wurde daher zum zweiten tragenden Slogan der Kampagne: den Amtsträger wählen, damit dieser seine Politik fortsetzen konnte.
Wie schon 1969 entdeckten auch die Intellektuellen und Künstler der Bundesrepublik den SPD-Kandidaten für sich. So mischten sich unter anderen Günter Grass und Siegfried Lenz – wie drei Jahre zuvor im Zuge des „Wahlkontors“ – aktiv in den Wahlkampf ein. Und auch die bundesrepublikanische „Elite“ identifizierte sich in hohem Maße mit dem Friedensnobelpreisträger – „Willy wählen!“ war richtiggehend en vogue. Der von der Wahlkampfmaschinerie der SPD entworfene „Willy wählen“-Button auf orange-farbenem Grund wurde von Studierenden und öffentlichen Personen gleichermaßen stolz auf der Brust getragen.
Brandt selbst, noch am Beginn des Wahlkampfs persönlich und politisch angeschlagen durch das Misstrauensvotum der Opposition, ritt mit neuem Elan auf der Welle der Begeisterung und hielt landauf und landab zahlreiche Wahlkampfreden, bis zu acht am Tag. Trotz mahnender Stimmen, die eine zu große Polarisierung im Wahlkampf befürchtet hatten und ein deutliches Bekenntnis zum demokratischen Sozialismus vor dem Hintergrund der Ostpolitik für politisch brisant hielten, sollte die Sozialdemokratie mit ihrer „Willy wählen!“-Kampagne recht behalten. Mit dem historisch höchsten Wahlergebnis von 45,8 Prozent wurde Brandt nicht nur deutlich wiedergewählt, die SPD wurde zudem erstmals die stärkste Fraktion im Bundestag. „Willy“ war wiedergewählt.