Der Arbeiter
Der Arbeiter ist eine zentrale Figur der sozialdemokratischen Erinnerungskultur. Das Bewusstsein, Politik an den Interessen des Arbeiters zu orientieren, prägte das Selbstverständnis der sozialistischen Parteien des 20. Jahrhunderts auch dann noch, als sie hinsichtlich des Sozialprofils ihrer Mitglieder und Wähler kaum mehr „Arbeiterparteien“ waren. Als wesentlicher historischer Bezugspunkt sozialdemokratischer Selbstbeschreibung war und ist der „Arbeiter“ keine neutrale, sozialwissenschaftlich beschreibbare Größe, sondern ein höchst politisches Konstrukt, das gestaltet, verändert und zur Legitimation spezifischer politischer Interessen herangezogen wurde. Die kulturelle Formung des Arbeiters in der historischen Erinnerung zeigt sich bereits daran, dass es vor allem der in einem Großbetrieb beschäftigte männliche Industriearbeiter war, der lange Zeit das historische Bild des Proletariers geprägt hat. Beispielhaft dafür ist in Deutschland die Gussstahlfabrik in Essen des ehemaligen Krupp-Konzerns (heute ThyssenKrupp), die 1811 gegründet wurde und die Keimzelle für den Aufstieg der deutschen Schwerindustrie im 19. Jahrhundert bildete. Während andere Formen von Arbeiterexistenzen wie der besitzlose Landarbeiter, Arbeiter in Kleinbetrieben oder die Arbeiterin jenseits wissenschaftlich interessierter Kreise bis heute nur am Rande das historische Bild des Arbeiters beeinflusst haben.
Der Arbeiter war bereits in der frühen Sozialdemokratie eine höchst schillernde Figur. Einerseits bezeichnete der Begriff eine soziale Realität, die prekäre Existenz des lohnabhängigen Proletariers, dessen Wohl sich die sozialistische Bewegung verpflichtet sah. Andererseits hatte die Bezeichnung jedoch eine in die Zukunft gewandte, utopische und gleichzeitige normative Dimension. Sie verwies auf einen neuen, überlegenen Menschentypus, dem die Sozialdemokratie als Bildungsbewegung zum Aufstieg verhelfen wollte. Im Unterschied zum Proletarier der zeitgenössischen Gegenwart – und besonders zum „Lumpenproletarier“, auf den die Sozialdemokraten missbilligend hinabsahen – sollte sich der neue Arbeiter durch ein Ideal kontinuierlicher Selbstverbesserung und Tugenden wie Zuversicht, Zuverlässigkeit, Solidarität und Aufopferungswillen auszeichnen.
Mit dem Wandel der Industriegesellschaft im 20. Jahrhundert veränderte sich die Figur des Arbeiters im sozialdemokratischen Gesinnungsmilieu maßgeblich. Von einem Objekt politischer Fürsorge und einem in die Zukunft projizierten neuen Menschentypus wurde der Arbeiter, spätestens in den Debatten über das Ende der Proletarität am Ausgang der 1950er Jahre zu einer historischen Gestalt. Ihre Bedeutung lag nun vor allem in der Legitimation aktueller sozialdemokratischer Politik und der soziokulturellen Integration einer politischen Bewegung, die sich mit dem Wandel der Industriegesellschaft konzeptionell und personell neu ausrichten musste. Während die zeitgenössische, schrumpfende Industriearbeiterschaft soziologisch intensiver als zuvor durchleuchtet und in ihren Wertehaltungen und Lebensweisen erforscht wurde, erhielt die Figur des Arbeiters nicht zuletzt aufgrund der exotisch erscheinenden Fremdheit proletarischer Existenz in der entstehenden Dienstleistungsgesellschaft eine neue mythische Aura. Sie entwickelte sich zu einer wichtigen Kontrastfigur neuer Lebensmodelle. Obwohl das Prekäre, Ungesicherte der Industriearbeiterexistenz nie ganz ausgeblendet wurde, verkörperte der Arbeiter als historische Gestalt für fast alle Strömungen der bundesrepublikanischen Sozialdemokratie und weit darüber hinaus eine Reihe äußerst positiv besetzter Werte wie kämpferischer Pragmatismus, Authentizität und Solidarität, in denen teilweise die ältere Stilisierung des Arbeiters zu einem neuen, besseren Menschen fortwirkte. Das seit den 1970er Jahren verstärkte Bemühen, den Arbeiter in Form von Ausstellungen, biografischen Interviews und Erinnerungsschriften als historische Gestalt im kollektiven Gedächtnis der Gesellschaft zu verankern, speiste sich nicht zuletzt aus der Überzeugung, dass das fortschreitende Verschwinden des Arbeiters als historischer Typus vornehmlich als Verlustgeschichte zu schreiben sei. Auch die Wiederentdeckung von „Arbeiterkultur“ in Kunst, Literatur und Geschichtswissenschaft seit den 1960er Jahren ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Vor dem Hintergrund dieser allgemeinen Entwicklung konnte eine behauptete konzeptionelle oder biografische Nähe zur Welt des Industriearbeiters immer wieder als kulturelles Kapital in den politischen Meinungskampf eingebracht und zur wirkungsvollen Legitimierung des eigenen Programms herangezogen werden.