Burgfrieden
Am 4. August 1914 – drei Tage nach der deutschen Kriegserklärung an Russland – bewilligte die SPD-Reichstagsfraktion die Kriegskredite und kam mit den anderen im Reichstag vertretenen Parteien überein, für die Zeit des Kriegs den politischen Streit ruhen zu lassen. Der Krieg wurde weithin als ein Verteidigungskrieg empfunden; der Hass auf das autokratische Russland und die Angst vor feindlichen Invasionen bestimmte das Verhalten vieler Sozialdemokraten ebenso wie der Wunsch, das Stigma der „vaterlandslosen Gesellen“ endlich loszuwerden.
Gegen die Burgfriedenspolitik der sozialdemokratischen Parteiführung regte sich bald schon Widerstand. Nachdem am 2. Dezember 1914 Karl Liebknecht als einziger Abgeordneter im Reichstag gegen die Kriegskreditbewilligung gestimmt hatte, ging die linksradikale Opposition am 9. Juni 1915 in die Offensive: In einer Eingabe an den Partei- und Fraktionsvorstand der SPD forderten die Unterzeichner des sogenannten Unterschriftenflugblatts, allen voran Liebknecht, „dass Fraktion und Parteivorstand endlich ohne Zaudern dem Parteiverderben Einhalt tun, den Burgfrieden aufsagen und […] den sozialistischen Kampf für den Frieden eröffnen“ sollten. Dieses Flugblatt war initiiert von der Gruppe Internationale, aus der 1916 der Spartakusbund und 1918 schließlich die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) hervorging. Die Spaltung der Sozialdemokratie war also eng mit dem symbolischen Akt des Burgfriedens verknüpft und bestimmte dessen Rezeptionsgeschichte nachhaltig; innerhalb der Arbeiterbewegung verläuft sie – entlang den Bruchlinien – auf zwei Spuren.
Audiogalerie (3 Tondokumente)
"...bis zum letzten Hauch von Mann und Ross". Rede zur Mobilmachung von Kaiser Wilhelm II. im August 1914. (2:31)
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Hörbild: Kriegsbegeisterung. (6:30)
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Philipp Scheidemann wirbt 1917 für einen Verständigungsfrieden. (1:33)
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Für die spätere Mehrheitssozialdemokratie (MSPD) war der 4. August 1914, der Burgfrieden, Folge eines seit dem Fall des ,Sozialistengesetzes‘ laufenden Transformations- und Reformierungsprozesses innerhalb der Partei, der zu einer immer engeren Einbindung in das politische System der konstitutionellen Monarchie geführt und Politik- wie Bündnisfähigkeit der SPD erwiesen hätte. Die Bildung des Interfraktionellen Ausschusses 1917 und die „Weimarer Koalition“ von 1919, mithin die Übernahme von Regierungsverantwortung wurden als direkte Konsequenz jener Entwicklung gedeutet, in die der 4. August 1914 eingebettet war. Dem Burgfrieden kommt in dieser Lesart zentrale Bedeutung für die Demokratiegeschichte in Deutschland zu.
Ganz anders die widerstreitende Meinung: Für die radikale und pazifistische Linke war der Burgfrieden ein Synonym für „Arbeiterverrat“. Die SPD hätte den kaiserlichen Krieg, der nicht der Verteidigung, sondern der Eroberung diente, unterstützt und sich somit von ihren Prinzipien, dem Klassenkampf, und ihrer Klientel, der Arbeiterklasse, abgewandt. „Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!“ war die Parole der KPD; ähnlichen Slogans folgte die bundesdeutsche Studentenbewegung; die SED-Kampagne gegen den „Sozialdemokratismus“ baute auf tiefsitzenden antisozialdemokratischen Affekten der im Ersten Weltkrieg politisierten Funktionäre auf; und auch heute noch findet der „Verrat“ des 4. August in den Organen der Linkspartei dankbare Resonanz.
Wer jedoch die damals führenden Persönlichkeiten der deutschen Sozialdemokratie als „Verräter“ brandmarken möchte, müsste Handlungsalternativen aufzeigen. Die einzig denkbare Alternative wäre jedoch die revolutionäre Aktion gewesen. Und eine revolutionäre Situation hat 1914 in keinem Staat Europas bestanden.