Vaterlandlose Gesellen
„Vaterlandslose Gesellen“ war im Deutschen Kaiserreich von 1871, teilweise auch noch in der Weimarer Republik, ein Schimpfwort hauptsächlich für Angehörige der sozialistischen Arbeiterbewegung. Obwohl diese keinen rein negativen Bezug zum „Vaterland“ als Umschreibung für das Territorium der nationalen Kommunikationsgemeinschaft pflegte, vielmehr einen eigenen radikal-demokratischen Nationsbegriff besaß, hatte die Schmähung einen realen Kern: Der Klassengegensatz zwischen Arbeit und Kapital war für die Sozialdemokratie der grundlegende, die einzelstaatlichen und nationalen Grenzen überschreitende, gesellschaftliche Widerspruch.
Halb ironisch hatten Karl Marx und Friedrich Engels im Kommunistischen Manifest von 1848 formuliert: „Die Arbeiter haben kein Vaterland“. Nur der Form halber sei ihr Kampf ein nationaler, auf der Ebene der gegebenen Staaten und Nationen sich vollziehender, im Inhalt aber international. Auf dem Weg zur sozialistischen, solidarischen Weltgesellschaft müsste das Proletariat des jeweiligen Landes indessen erst einmal – nach dem Vorbild des Dritten Standes in Frankreich 1789 – „sich selbst als Nation konstituieren“. Vorgelagerte politische Ziele nationalen Charakters ergaben sich für die frühe Arbeiterbewegung dort, wo Aufgaben der bürgerlichen Revolution, in Deutschland vor allem die Herstellung eines gesamtnationalen Verfassungsstaats, ungelöst geblieben waren.
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Die staatliche Repression setzte schon vor dem ,Sozialistengesetz‘ (1878–1890) ein. Der Protest beider noch getrennt existierenden sozialdemokratischen Parteien gegen die Annexion Elsaß-Lothringens nach dem deutsch-französischen Krieg und die Solidarisierung von August Bebel mit der Pariser Kommune im Reichstag (25. Mai 1871) befestigten das Bild von den „vaterlandslosen Gesellen“, wobei das „Vaterland“ automatisch mit der existierenden politischen und sozialen Ordnung identifiziert wurde. 1904 gründeten Mitglieder der konservativen und rechtsliberalen Parteien sogar einen „Reichsverband gegen die Sozialdemokratie“, den diese gern als „Reichslügenverband“ bezeichnete; einem ähnlichen politischen Spektrum entsprang 1917 die „Vaterlandspartei“, die gegen einen, am entschiedensten von den Sozialdemokraten geforderten „Verständigungsfrieden“ und für einen „Siegfrieden“ eintrat.
Kaiser Wilhelm II., mit dem die Floskel von den „vaterlandslosen Gesellen“ meist verbunden wird, erklärte einer Delegation streikender Ruhrbergarbeiter am 14. Mai 1889, für ihn sei „jeder Sozialdemokrat gleichbedeutend mit Reichs- und Vaterlandsfeind“. Am Tag der Sedanschlacht dem 2. September, dem inoffiziellen Nationalfeiertag des Kaiserreichs, sprach Wilhelm II. 1895 von den Sozialdemokraten als einer „Rotte von Menschen, nicht wert, den Namen Deutscher zu tragen“ und von einer „hochverräterischen Schar“.
Während die Bebel‘sche Sozialdemokratie lange darauf bestand, ihr spezielles Nationsverständnis als ein oppositionelles zu artikulieren – den Herrschenden „zum Trotz“ – und sich die sozialistische Zukunft als brüderliches Bündnis sozial und kulturell inklusiv organisierter Völker vorstellte, wurde im Zuge der zunehmenden, nicht ausschließlich negativen Integration der Partei wie der Gewerkschaften in Staat und Gesellschaft Deutschlands um 1900 der subversive Gehalt des sozialdemokratischen Vaterlandsbegriffs erkennbar ausgedünnt. Die Erklärung der SPD-Reichstagsfraktion, mit der diese am 4. August 1914 ihre (nach außen einmütige) Zustimmung zur Bewilligung der Kriegskredite begründete, betonte die Kontinuität der Politik der Partei, als es hieß, man mache jetzt wahr, was man stets betont habe: „Wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigenen Vaterland nicht im Stich“.
In der Weimarer Republik vertieften sich noch die Klüfte innerhalb der Arbeiterbewegung im Hinblick auf die nationale Frage: Während die Kommunisten als Teil einer von Moskau aus geleiteten Weltpartei sich nicht scheuten, gelegentlich an nationalpatriotische Empfindungen der Volksmassen zu appellieren: gegen die bestehende Staats- und Gesellschaftsordnung, identifizierte sich die sozialdemokratische Mehrheitsströmung trotz deren weiterhin kapitalistischen Fundaments mit der Weimarer Republik als einem demokratischen „Volksstaat“, der auch national legitimiert werden sollte.
Bevor Adam Scharrer 1930 sein „Kriegsbuch eines Arbeiters“ mit dem Titel „Vaterlandslose Gesellen“ versah, dabei aber eher den Sinn der eingangs zitierten Passage des Kommunistischen Manifests meinte, hatte Ludwig Thoma schon 1913 ein Gedicht in seiner Sammlung „Peter Schlemihl“ mit der Absicht so tituliert, das Bild umzukehren und die Bindung des Patriotismus der Reichen an ihre materiellen Interessen zu attackieren. Mit ähnlicher Tendenz nahmen sich sozialdemokratische Redner und Journalisten das rein gewinnorientierte Verhalten deutscher Großunternehmer vor, insbesondere im Rüstungssektor, und später, in der Weimarer Republik, die nationale Illoyalität der rechtsorientierten „Reichsverderber“.
Auf solcherart Abwehrpolemik hat die SPD auch nach 1945 nicht verzichtet, zuletzt in den Jahren 2004 bis 2006, als führende Sozialdemokraten und Gewerkschafter denjenigen Unternehmern, die bedenkenlos Arbeitsplätze ins Ausland verlagerten, „vaterlandsloses“ Verhalten vorwarfen und – so Wolfgang Thierse am 11. April 2004 – explizit von „vaterlandslosen Gesellen“ sprachen. Dazu passte Franz Münteferings Wort (17. April 2005) von den „Heuschrecken“ des internationalen Finanzkapitals.