Der „Vorwärts“
„Unser Vorwärts ist mehr als eine Parteizeitung. Er ist ein Stück unserer Geschichte und Identität“, urteilte das SPD-Vorstandsmitglied Hans-Jochen Vogel 1986 in der Ausgabe zum 110-jährigen Jubiläum. Bereits die Vorgängerparteien der SPD, allen voran der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV) von 1863, schufen sich nach ihrer Gründung eigene Mitteilungsorgane. In den Anfangsjahren stellte das Abonnentenverzeichnis oft das einzige Mittel der Mitgliederverwaltung dar. In parteieigenen Betrieben schrieben, druckten und verlegten Mitglieder der Bewegung, die dadurch oft auch ihren Lebensunterhalt bestritten. Die Zeitungen der SPD gaben ihrer Klientel eine öffentlich wahrnehmbare Stimme.
Wilhelm Liebknecht hatte 1876 erklärt: „Unser gefährlichster Feind ist nicht das stehende Heer der Soldaten, sondern das stehende Heer der feindlichen Presse.“ Im selben Jahr wurde der „Vorwärts“ als Zentralorgan der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD), aus der 1890 die SPD hervorging, gegründet. Im Kaiserreich, vor allem aber in der Weimarer Republik wurde der „Vorwärts“ zu einer Kaderschmiede; aus seiner Redaktion gingen zahlreiche Reichstagsabgeordnete und Regierungsmitglieder hervor. Noch in der jungen Bundesrepublik agierte allen voran der „Vorwärts“ als überregional erscheinende Parteizeitung in einer ansonsten feindlichen Medienumwelt.
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Zweimal wurden die Partei und ihre Zeitungen sogar verboten und verfolgt – ihre Wiederbelebung nach Bismarcks ,Sozialistengesetz‘ und nach dem Nationalsozialismus gehört zum kollektiven Erinnerungskanon der Sozialdemokratie. Gleiches gilt für die Zeit der Teilung Deutschlands. Ein „Vorwärts“ erschien bereits im April 1946 wieder, allerdings als Sprachrohr der Landesleitung der soeben per Zwangsfusion entstandenen Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) in der Sowjetischen Besatzungszone, in deren Sektor Berlins die alte Vorwärtsdruckerei lag. So entstanden im Ringen um die Rechtsnachfolge wie inhaltlich in der Wertung der Rolle der Spaltung der Arbeiterbewegung für den Zerfall der Weimarer Republik unterschiedliche Deutungsmuster und damit Erinnerungskulturen.
1989 musste das Blatt nach langen Reform- und Rettungsversuchen als frei verkäufliche, parteigebundene Wochenzeitung eingestellt werden. Es war ihr nicht gelungen, die gesellschaftliche Individualisierung und die uneinheitlicher gewordene Klientel der Volkspartei SPD in eine entsprechende publizistische Form zu übersetzen. Der „Vorwärts“ im Briefkasten ist heute nicht mehr ein offensiver Ausdruck klassenbewusster Haltung wie vor 100 Jahren. Mittlerweile die Mitgliederzeitschrift der SPD, belebt er aber gelegentlich selbst in Artikeln, insbesondere zu Jubiläen, die eigene Geschichte.