Die Enkel
Als die „Enkel“ Willy Brandts werden in der SPD – und darüber hinaus – gemeinhin jene Sozialdemokraten tituliert, die in den 1940er Jahren geboren wurden und im Verlauf der 1960er Jahre in die Partei eintraten. Im zeitlichen Umfeld der deutschen Vereinigung schlossen sie den Generationswechsel an der SPD-Spitze ab und zogen in mehreren Bundesländern in die Staatskanzleien ein: Oskar Lafontaine im Saarland (1985), Björn Engholm in Schleswig-Holstein (1988), Gerhard Schröder in Niedersachsen (1990) und Rudolf Scharping in Rheinland-Pfalz (1991). Im Jahr 1998 schließlich gelang dem Enkel-Tandem Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine der Machtwechsel im Bund und die Ablösung Helmut Kohls durch eine rot-grüne Bundesregierung.
Die Enkel waren die Profiteure der Bildungsexpansion, in ihren Familien waren sie zumeist die Ersten, die das Abitur machten und studierten. Seit ihrem Aufstieg an die Spitze von Partei und Politik mischte sich den lobenden Urteilen freilich zunehmend auch Kritik bei. Das hing nicht zuletzt mit der Haltung der Enkel zur deutschen Vereinigung zusammen, der sie – die nie etwas anderes als das geteilte Deutschland kennengelernt hatten – in uneuphorischer Sachlichkeit begegneten. Wohl galten sie auch in der Folgezeit – gerade im Vergleich zu den viel zahlenschwächeren und farbloseren Nachfolgejahrgängen – als gewiefte Politiker, trainiert und gestählt in harten Ausscheidungskämpfen mit Gleichaltrigen (bei den Jungsozialisten) wie Altvorderen (in den Parteigremien). Auch blieb ihr Ruf als Medienprofis erhalten, als fintenreiche, mitunter unberechenbare, telegene Instinktpolitiker, die in Wahlkämpfen ihren Konkurrenten aus den Unionsparteien allemal das Wasser reichen konnten.
Doch galten sie seit der Bundestagswahl 1990, als der Enkel Oskar Lafontaine den Sprung in das Kanzleramt verpasste, als verhinderte oder – nach 1998 – verspätete Kohorte. Zunehmend schalt man sie nun der Prinzipienlosigkeit, zu beliebig und begründungslos erschien ihr Wandel von den linken Ideologen zu neumittigen Advokaten des Machbaren. Auch an ihrem bisweilen sprunghaften Changieren zwischen schwer zu vereinbarenden Positionen rieb sich die Öffentlichkeit, nicht zuletzt auch die Medien, ebenso an ihrer offenkundig defizitären Bereitschaft zu Unterordnung und Parteidisziplin. Jetzt wurde der Blick frei für die Probleme, die mit der langjährigen, unangefochtenen Dominanz einer einzigen Politikergeneration verbunden sind: verbissene Führungskämpfe, erratische Wechsel an der Parteispitze und die Blockade des Aufstiegs nachrückender Generationen.
Dabei bezog sich der Hader der veröffentlichten Meinung auf dieselben Charaktermerkmale, die von den Medien zuvor anerkennend herausgestellt worden waren: Das kritisierte Sesselkleben der Angekommenen spiegelte das rempelige Erfolgsstreben zu Beginn ihrer Karrieren wider; die kopfschüttelnd kommentierte Unberechenbarkeit war die Kehrseite der souveränen Telegenität. Die ultrapragmatische Abkehr von sozialdemokratischen Traditionen, wie sie im Schröder-Blair-Papier oder der Agenda 2010 zum Ausdruck kam, hatte sich vage bereits ein halbes Jahrhundert zuvor im verschlungenen, wenig geradlinigen Weg der Enkel in die SPD abgezeichnet, der beispielsweise Björn Engholm zunächst zur FDP-Jugend und Gerhard Schröder auf Veranstaltungen der rechten „Deutschen Reichspartei“ geführt hatte.
Sei es drum: Aus den Hoffnungsträgern waren 2009 mitunter auch Enttäuschungen der SPD geworden. Allerdings zeichnet sich eine weitere Neubewertung aktuell schon ab, gelten doch die Agenda-Reformen als einer der Gründe dafür, dass Deutschland die Wirtschaftskrise vergleichsweise gut überstanden hat, die Konjunktur stabiles Wachstum aufweist und die Arbeitslosenzahl – Stand: Dezember 2011 – unter die Drei-Millionen-Marke gesunken ist.