Karl Marx

In der Berliner Parteizentrale der SPD, dem Willy-Brandt-Haus, gibt es eine Geschichtswand. Dort beginnt die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie mit Ferdinand Lassalle und der Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) 1863. Das war nicht immer so und ist keineswegs überall so. Die Wurzeln der Sozialdemokratie sind vielfältiger und reichen tiefer, ein einziges Gründungsdatum ist problematisch. So beginnen die „Programmatischen Dokumente der deutschen Sozialdemokratie“ – in jeder Auflage unverändert – mit dem von Karl Marx und Friedrich Engels verfassten Kommunistischen Manifest, das am Vorabend der Revolution von 1848 erschienen war.

Im 19. Jahrhundert waren verzweigte Wurzeln und ein Nebeneinander von Daten und Gründervätern selbstverständlich. Der Gedenktag vom 18. März 1848 zeigt dies ebenso wie Ikonografisches, etwa Stickbilder mit Marx und Lassalle, Schmuckblätter oder der damals beliebte „Stammbaum des Sozialismus“. Das entsprang dem Selbstverständnis der Sozialdemokratie als einer marxistischen Partei, die sich in der bis kurz vor dem Ersten Weltkrieg reichenden Blütezeit zur Massenpartei entwickelt hatte. Ausdruck dessen war das Erfurter Programm (1891), nachdem der Marxismus vor allem während des ,Sozialistengesetzes‘ (1878–1890) in die Sozialdemokratie Eingang gefunden hatte.

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Jahrzehntelang hat sich die Sozialdemokratie an Karl Marx orientiert, zunächst im Gefolge seiner Lehre, dann in Auseinandersetzung mit ihr. Mit dem Godesberger Programm (1959) hat sie sich endgültig von dieser theoretischen Fundierung getrennt. Mochten damit Marx und seine Theorien aus dem Blickfeld der offiziellen SPD verschwunden sein, außerhalb – im Osten wie im Westen – blieben sie ebenso virulent wie in einer rebellischen Jugend, den eigenen Nachwuchs eingeschlossen.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der DDR verschwand dort der oktroyierte Marx, Kenntnisse über Leben, Werk und Wirkung des Denkers aus Trier nahmen ab. Wenig scheint an ihn zu erinnern, doch das Grabmal in London und das Geburtshaus in Trier, das Karl-Marx-Haus mit einer Dauerausstellung zu Leben, Werk und Wirkung, sind reale Orte der Erinnerung.

Mag London ein Wallfahrtsort sein, wie das Monument nahelegt, Trier ist es nicht, wohl aber ein authentischer Ort, an dem man etwas erfährt über den Sohn eines jüdischen Anwalts, der als Philosoph und Linkshegelianer Journalist wurde, Verfasser des Kommunistischen Manifestes und des „Kapitals“ war, politisch wirkte, die junge Sozialdemokratie beeinflusste und kritisierte und doch in erster Linie ein Universalgelehrter des 19. Jahrhunderts war, der nach wie vor zur Auseinandersetzung anregt.

Das Interesse an ihm und seinen Theorien ist nicht verblasst, neu sind die Formen populärer Aneignung und medialer Aufbereitung. Dahinter steht häufig die Frage, ob er oder seine Theorien eine Antwort auf gegenwärtige Krisen sein können. Die Antwort darauf sollte die Sozialdemokratie nicht anderen überlassen. Karl Marx gehört zu ihren Wurzeln.