August Bebels Uhr

Die „Bebel-Uhr“ ist ein Beispiel dafür, wie ein historisches Symbol bewusst für die Identitätsstiftung einer Organisation eingesetzt wird. So verleiht der SPD-Stadtverband Erlangen als „höchste Auszeichnung“ an verdiente Mitglieder eine „August-Bebel-Uhr“, die von Preisträger zu Preisträger weitergereicht wird. Bei dieser Uhr handele es sich „um eine originalgetreue Nachbildung der Taschenuhr, die einst August Bebel gehörte“. Eine solche Uhr wird als Auszeichnung angesehen, weil sich seit Jahrzehnten in der SPD und den Medien die Erzählung von einer goldenen Taschenuhr hält, die von August Bebel stamme und von Parteivorsitzendem zu Parteivorsitzendem weitergegeben werde. Auf diese Erzählung griff offenbar auch Helmut Schmidt zurück, als er im Jahre 1968 als Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion anregte, „eine Tradition August Bebels wieder aufzunehmen und älteren Fraktionsmitgliedern, die dem Bundestag längere Zeit angehören, eine goldene Uhr zu schenken“. Über eine Vorlage in der Fraktionsvorstandssitzung vom 6. Mai 1968 hinaus hat diese Idee allerdings keine erkennbaren Spuren hinterlassen.

Was steckt hinter diesem Mythos von der „Bebel-Uhr“? Fest steht, dass der 1913 verstorbene Mitgründer der SPD August Bebel, die dominierende Persönlichkeit der SPD vor 1914 und im Alter durchaus vermögend, eine unbekannte Anzahl goldener Taschenuhren mit seinem eingravierten Namen an Freunde und vielleicht auch Geschäftspartner verschenkte. Eine solche Uhr hat 1963 das Licht der Öffentlichkeit erblickt: Als Willy Brandt, damals Regierender Bürgermeister von Berlin und stellvertretender Parteivorsitzender der SPD, aus Anlass des 50. Todestags von August Bebel zu dessen Grab nach Zürich reiste, wurde ihm als Vertreter des SPD-Parteivorstands am 13. August von der Sozialdemokratischen Partei Zürich eine goldene Taschenuhr übergeben. Aus den Erklärungen der Zürcher Sozialdemokraten ergibt sich, dass Bebel diese Uhr dem ihm befreundeten Kantonsrichter Otto Lang geschenkt hatte. Nach dem Tod Langs kam die Uhr 1936 an Albert Bader, Vertrauensmann der Sozialdemokraten in Zürich. Dessen Witwe gab die Uhr an die Zürcher Sozialdemokratische Partei weiter. Die Übergabe an die SPD in Person Brandts erfolgte ausdrücklich „in Einverständnis mit der Genossin Bader“.

Auf den ersten Blick verwirrend wirkt es, dass Willy Brandt zu seinem 53. Geburtstag im Rahmen einer großen SPD-Konferenz in Bad Godesberg am 18. Dezember 1966 aus der Hand von Herbert Wehner feierlich wieder eine „Bebel-Uhr“ überreicht wurde. Manche vermuteten im Nachhinein, dass es sich hier um eine zweite Uhr handelte. Nach den handschriftlichen Redenotizen Brandts zu diesem Ereignis war es aber wieder die Uhr aus Zürich: „Bebels Uhr – am 13/8 63 mir zu treuen Händen – von mir wieder zu treuen Händen der Partei. Schönes Zeichen der Kontinuität bei allem Wechsel“. Brandt, jetzt Parteivorsitzender, erhielt die Uhr nun als Person, wobei in seinen Formulierungen auch die Vorstellung enthalten ist, dass die Uhr weitergereicht wird.

Die Uhr weist über der Glasabdeckung des weißen, emaillierten Zifferblatts – das keine Herstellerangabe zeigt – keinen Deckel auf. Auf dem Rückendeckel sieht man als Gravur die ineinander verschlungenen Buchstaben „O“ und „L“ für Otto Lang. Wenn man den Rückendeckel aufklappt, erscheint auf der Werkabdeckung die Gravur „August Bebel“. Öffnet man auch die Werkabdeckung, findet man innen das Markenzeichen des Uhrenherstellers: Mermod Frères aus Sainte-Croix/Kanton Waadt. Diese Uhr ist diejenige, die in der Dauerausstellung der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung in Berlin zu sehen war beziehungsweise nach einer Umgestaltung wieder zu sehen sein wird. Als Reaktion auf einen Diebstahlsversuch wird allerdings nunmehr ein Replikat gezeigt, während das Original vom Willy-Brandt-Archiv im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung sicher verwahrt wird.